"Keine völlig neuen Haftungsrisiken“
Interview
Muss ich vorsorglich die ePA eines Patienten durchforsten, um nichts Wichtiges zu übersehen? KBV-Jurist Dr. Christoph Weinrich gibt Entwarnung – und erklärt, in welchen Fällen ein Blick in die ePA wirklich geboten ist.
Ab 2025 wird die elektronische Patientenakte (ePA) flächendeckend eingesetzt. Ist das mit neuen Haftungsrisiken für die KV-Mitglieder verbunden?
WEINRICH: Es besteht kein Anlass, sich übergroße Sorgen zu machen. Im Grunde bleibt in der ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung alles so, wie es war. Es wird keine haftungsrechtlichen Risiken geben, die wir vorher überhaupt nicht kannten.
In der ePA sammelt sich ein Wust von Informationen an, der über die Jahre immer umfangreicher wird. Ist die Gefahr für Ärztinnen und Psychotherapeuten nicht ziemlich groß, etwas zu übersehen?
WEINRICH: Grundlage der Behandlung bleibt das anamnestische Gespräch. Ärzte und Psychotherapeuten müssen nicht routinemäßig in die ePA schauen, sondern nur, wenn es einen konkreten Hinweis darauf gibt, dass die ePA für die Behandlung relevante Informationen enthält.
Was für ein Hinweis könnte das beispielsweise sein?
WEINRICH: Wenn eine Patientin aus dem Krankenhaus entlassen wurde, besteht ein Anlass nachzufragen, ob in der ePA ein Entlassungsbrief enthalten ist. Wenn sich ein Patient mit einem unspezifischen Bauchschmerz vorstellt und der Arzt eine OP-Narbe im Bauchbereich sieht, ist das ein Anlass, nach einem OP-Bericht in der ePA zu fragen. In vielen Fällen wird der Patient auch von sich aus auf ein relevantes Dokument in der ePA hinweisen.
Ärzte und Psychotherapeutinnen müssen also nicht vorsorglich in die ePA schauen, um sich zu vergewissern, ob etwas Relevantes enthalten ist?
WEINRICH: Nein. Es ist weder medizinisch sinnvoll noch rechtlich erforderlich, die ePA anlasslos zu durchforsten.
Ist der Patient denn dazu verpflichtet, den Arzt oder Psychotherapeuten auf relevante Dokumente in der ePA hinzuweisen?
WEINRICH: Ja, der Patient hat eine Mitwirkungsverpflichtung im Rahmen der Behandlung.
Und was geschieht, wenn der Patient falsche Angaben macht? Können daraus Haftungsrisiken für die Ärztinnen und Ärzte entstehen?
WEINRICH: Nein. Ärztinnen und Ärzte dürfen grundsätzlich auf die Richtigkeit dessen vertrauen, was der Patient sagt. Das ist durch die Rechtsprechung abgesichert.
Kann man darauf vertrauen, dass die in der ePA enthaltenen Informationen richtig sind?
WEINRICH: Ja, auch darauf darf man grundsätzlich vertrauen. Einzige Ausnahme wäre, wenn irgendein Umstand die Glaubwürdigkeit der Aussage des Patienten oder der Information in der ePA erschüttert. Wenn eine Information also ganz offensichtlich unplausibel ist.
Es gibt ja einerseits die Primärdokumentation in den Praxen und andererseits die ePA. Ändert die flächendeckende Einführung der ePA etwas daran, wie die Primärdokumentation in den Praxen geführt werden muss?
WEINRICH: Nein. Die Anforderungen an die Primärdokumentation in den Praxen gelten unverändert weiter: Ärztinnen und Psychotherapeuten sind verpflichtet, „alle medizinisch wesentlichen Informationen für die Behandlung eines Patienten“ zeitnah in ihrer Primärdokumentation festzuhalten. Das ist in den Vorschriften zur ePA etwas anders geregelt. Da ist konkret definiert, was reingehört: Die ePA soll „z.B. Informationen, insbesondere zu Befundberichten, Diagnosen, durchgeführten und geplanten Therapiemaßnahmen sowie zu Behandlungsberichten“ enthalten. Künftig sollen Daten, die als sogenannte Medizinische Informationsobjekte (MIO) vorliegen – zum Beispiel die Medikationsliste – in diesem Format in die ePA eingestellt werden. Bei den Dokumenten, die bis zum Vorliegen der entsprechenden MIOs in die ePA hochgeladen werden, handelt es sich im Wesentlichen um Kopien aus der Primärdokumentation. Die ePA wird definitionsgemäß weniger Informationen enthalten als die Primärdokumentation. Der entscheidende Unterschied aber ist: Die ePA ist patientengeführt, das heißt: Der Patient entscheidet, was reinkommt. Für die Primärdokumentation, also die eigentliche Behandlungsdokumentation, ist hingegen nach wie vor der Arzt oder Psychotherapeut verantwortlich.
Ändert die ePA etwas an den Aufklärungspflichten gegenüber den Patienten? Kann man davon ausgehen, dass die Patienten sich mit den Dokumenten in der ePA beschäftigen?
WEINRICH: An den Aufklärungspflichten gegenüber den Patienten ändert sich, jedenfalls bezogen auf die eigentliche Behandlung, nichts. Was hinzukommt, sind bestimmte Informationspflichten, etwa bezogen auf die Widerspruchsmöglichkeiten bei besonders sensiblen Diagnosen (zum Beispiel psychiatrische Erkrankungen) und natürlich über den Umstand, dass generell Daten in die ePA eingestellt werden. Aber bezogen auf die Behandlung: nein. Man kann ja nicht davon ausgehen, dass die Patienten sich medizinisches Wissen anhand der Dokumente in der ePA erarbeiten. Ob und wie die Patienten ihre ePA dann tatsächlich nutzen, ist aber eine interessante Frage. Die ePA soll bei bei Diagnostik und Behandlung unterstützen – so steht es im Gesetz. Gehen die Patienten mit Hilfe der ePA besser organisiert und informiert in die Praxen? Das müssen Sie in einigen Jahren die Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten fragen. Ich als Jurist habe da schmunzelnde Zweifel.
Was ändert sich beim innerärztlichen Informationsaustausch?
WEINRICH: Auch hierbei ändert sich nichts. Als Arzt oder Psychotherapeut kann ich nicht sicher sein, dass der weiterbehandelnde Kollege eine von mir in die ePA gestellte Information wahrnimmt – oder dass diese überhaupt noch vorhanden ist. Der Versicherte hat ja das Recht, Daten zu löschen. Ist ein professioneller Informationstransfer zwischen Kollegen oder zwischen medizinischen Einrichtungen nötig, muss weiterhin eine direkte Kommunikation stattfinden – beispielsweise via KIM.
Aus haftungsrechtlicher Sicht bleibt also fast alles beim Alten?
WEINRICH: Ja. Die ePA verändert grundsätzlich weder die professionelle Kommunikation innerhalb des Gesundheitssystems noch die Arzt-Patienten-Beziehung. Wenn es gut läuft, unterstützt die ePA die Diagnostik und Behandlung. Aus haftungsrechtlicher Sicht kommt eine einzige Faustregel für das anamnestische Gespräch hinzu: Wenn es Hinweise darauf gibt, dass die ePA relevante Informationen für die laufendende Behandlung enthält, muss der Arzt oder Psychotherapeut die betreffenden Dokumente berücksichtigen.