Jeder Arzt arbeitet pro Tag eine Stunde nur dafür, die AOK zu retten
Kolumne
von Dr. Matthias Soyka
Orthopäde in Hamburg-Bergedorf
Warum gibt es in Deutschland fast 100 Krankenkassen? Diese Frage stellen Kritiker des Gesundheitssystems immer wieder, kürzlich sogar der Sozialverband für Deutschland.
Und sofort ertönt die Antwort derjenigen, die gut von dem System leben – sei es als Vorstand einer Krankenkasse oder als Gesundheitsökonom, der regelmäßig lukrative Aufträge von Krankenkassen erhält. Die eingesparten 100 Gehälter von Direktoren, stellvertretenden Direktoren, Vorstandssekretärinnen, die Dienstwagen und Pensionsverpflichtungen – das sei gar nicht so viel, quasi nur Peanuts. Na klar, wir haben es ja!
Woher die plötzliche Großzügigkeit? Wenn es um die Ärzte geht, wird jeder Cent umgedreht. Jeder Euro Arzthonorar erscheint den Krankenkassenvorständen und Gesundheitsökonomen zu viel. Selbst das Versprechen, die sowieso schon niedrig bezahlten ärztlichen Leistungen zumindest teilweise in voller Höhe zu bezahlen und nicht durch ein Budget nachträglich zu kürzen, erscheint den Krankenkassen wie ein unverdientes und zu teures Geschenk an die Ärzte, das „wir“ uns nicht leisten können.
Bei den eigenen Vorstandskosten ist alles anders. Hier wird das Geld mit vollen Händen ausgegeben.
Und doch ist auch etwas Wahres dran an den Äußerungen der Direktoren und Gesundheitsökonomen: Die eingesparten Direktorengehälter wären wirklich nur der kleinste Teil dessen, was man sparen könnte, wenn die 100-fache Krankenkassen-Schiene endlich abgeschafft würde.
Der Spareffekt bei einer Abschaffung fast aller Krankenkassen wäre riesig, denn die Kosten, die die überbordende Krankenkassenbürokratie verursacht, beschränken sich nicht allein auf die Gelder, die in den Schatullen der Bürokraten landen. Die Krankenkassen-Bürokratie verursacht nämlich zusätzlich zu den direkten Kosten jede Menge indirekter Kosten in den anderen Bereichen des Gesundheitswesens. Und das liegt ausgerechnet am Wettbewerb der Krankenkassen.
Irgendwann einmal ist der Gesetzgeber auf die Schnapsidee gekommen, einen Wettbewerb der Krankenkassen einzurichten. Das Verrückte daran ist nur: Worum soll dieser Wettbewerb denn gehen? Krankenkassen haben doch keinen messbaren „Output“ für die Versicherten.
Schließlich haben alle Versicherten in Deutschland den Anspruch auf die gleichen Leistungen – völlig unabhängig davon, in welcher Kasse sie Mitglied sind. Diese Leistungen werden auch nicht von Krankenkassenmitarbeitern erbracht, sondern von Ärzten, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Apothekern, Krankenhäusern und vielen anderen „Leistungserbringern“.
Was aber produzieren die Krankenkassen an Leistung im Gesundheitswesen? Die Antwort ist: Nichts!
Die eigentliche Aufgabe der Krankenkasse besteht darin, die Versichertengelder einzuziehen, sie zu verwalten, Missbrauch zu unterbinden und die Leistungsträger auszuzahlen. Das ist zweifellos wichtig, aber eben keine Leistungserbringung, die in einem Wettbewerb stehen könnte. Ein Wettbewerb der Krankenkassen wäre nur dann sinnvoll, wenn er darin bestünde, diese Aufgaben so rationell und billig zu erbringen, wie nur möglich. Das wäre auch kein Hexenwerk, es gäbe ein gewaltiges Rationalisierungspotential. Denn anders als die Arbeit mit Patienten, sind Verwaltungstätigkeiten hervorragend durch Digitalisierung zu rationalisieren. Jeder Sanierer eines Unternehmens stutzt zuerst den Wasserkopf der Verwaltung.
Doch nicht bei den Krankenkassen. Deren Kosten steigen im gleichen Maße wie die Kosten für die echte Medizin, bloß warum? Womit beschäftigen sich die Krankenkassen?
Die Antwort lautet: vor allem mit sich selbst und mit ihrem künstlichen Wettbewerb. Dafür wird nicht nur ein Heidengeld für Werbeagenturen ausgegeben, sondern auch für verschiedene Zusatzleistungen, damit überhaupt irgendein Unterschied zwischen den Kassen spürbar ist. Soll man seinen Mitgliedern irgendeine obskure Alternativmedizin anbieten, jungen Leuten als Werbung Kuren ermöglichen, die man den Alten knickerig vorenthält? Oder soll man Mitgliedern einen Bonus zahlen, der die Höhe dessen überschreitet, was mancher Leistungsträger im Quartal erhält?
Alle diese Fragen gilt es zu klären, und dafür müssen Meetings stattfinden, Diskussionspapiere erstellt, Dienstreisen durchgeführt und zusätzliche Gelder eingetrieben werden.
Im Endergebnis wird die Verwaltung durch den Wettbewerb teurer als ohne ihn.
Inzwischen werden 13 Milliarden Euro pro Jahr für reine Krankenkassenverwaltungskosten ausgegeben. Das ist etwas mehr als das gesamte Kirchensteuer-Aufkommen in Deutschland und doppelt so viel wie der Haushalt des Bundeslandes Bremen. Wie soll das auf Dauer gerechtfertigt werden?
Aber der Wettbewerb ist nicht nur teuer, er bringt auch ein Ergebnis, das niemand will: Bei einigen Krankenkassen sammeln sich „zu viele“ alte und richtig kranke Mitglieder, bei anderen vor allem junge und gesunde. Die Kassen mit den meisten Kranken sind die Verlierer des Wettbewerbs und müssten eigentlich Konkurs anmelden. Doch das will kein Politiker, schon allein weil Krankenkassenposten ein gutes Ruhekissen für ausgediente Politiker sind.
Die größte Kasse unter den Pleitekandidaten ist die AOK. Damit sie nicht Bankrott geht, müssen die Siegerkassen mit den gesunden Patienten Ausgleichszahlungen an die Verliererkassen mit den kranken Patienten zahlen. Das Ganze funktioniert so ähnlich wie der Länderfinanzausgleich und ist ein weiterer Motor für viele neue bürokratische Akte. Das treibt die Kosten weiter an.
Der Hauptschaden dieses irren „Risikostrukturausgleichs“ wird in den Praxen der niedergelassenen Ärzte angerichtet. Denn die Politik hat entschieden, dass die Höhe des Ausgleichs sich daran orientiert, welche Kasse unter ihren Mitgliedern am meisten Patienten mit bestimmten (aber bloß nicht allen) Krankheiten hat. Um die dafür nötigen Statistiken zu füllen, werden Ärzte seit Jahren verpflichtet, den Krankheiten Code-Ziffern zuzuordnen, die „ICD“. Das ist kein banales Unterfangen, die Kassen fordern sogar schon ärztliche Pflicht-Fortbildungen für diesen Quatsch.
Ärzte in anderen Ländern der Welt haben es da besser. In der Schweiz umfasst der Tessiner Diagnosecode nur 80 Diagnosegruppen, im Bereich des Bewegungsapparates z.B., nur fünf, worin auch Rheuma enthalten ist. (Zum Vergleich: Der in Deutschland benutzte ICD enthält 69000 Diagnosen.)
Das Kodieren von Diagnosen kostet sehr viel Zeit und hält Ärzte von ihrer eigentlichen Arbeit ab. Aber sie haben keine Wahl. Alle Abrechnungen benötigen die richtigen ICD-Ziffern, Überweisungen ebenso wie Physiotherapie-Rezepte. Wenn der Arzt bestimmte Medikamente ohne die dafür erlaubten ICDs verordnet, gibt es Regresse.
Einige Ärzte und KV-Funktionäre sehen sich sogar Strafverfolgung ausgesetzt, weil sie bei den Kodierungen Fehler gemacht haben sollen. Alle anderen Ärzte müssen für diese sinnbefreite Tätigkeit mindestens eine Stunde pro Tag mehr arbeiten.
Diese Zeitangabe beruht auf eigenen Berechnungen, die ich zum Teil schon in meinem Buch „Wahnsinn Wartezeit“ dargelegt habe. Für jedes Rezept, jede Physiotherapieverordnung, jede Überweisung und für jeden Eintrag in die Krankenakte muss mindestens eine Diagnose mit einer ICD eingegeben werden.
Auch wenn oft, aber keineswegs immer, die Praxis-EDV ICD-Kodes vorschlägt, bleibt die Verantwortung beim Arzt. Der muss die ICD-Kodes daher überprüfen. Pro Patient dürften dafür im Laufe des Tages (also nicht in einem Zusammenhang wie bei den unzähligen Anfragen) 60 Sekunden verbraucht werden. Eine Zeit, während der der Arzt auf seinen Computer starrt, statt mit seinem Patienten zu reden. Vielen fällt das oft gar nicht mehr auf, so sehr sind die Ärzte daran gewöhnt, diese kleine Zusatzarbeit zu erbringen. Bei 60 Patienten am Tag ergibt das eine Stunde.
Eine Stunde ärztlicher Arbeitszeit wird also nur für die Rettung der AOK benötigt – pro Tag!
Hier ergibt sich also ein gewaltiges Einsparpotential. Wenn wir endlich auf die AOK-rettenden Maßnahmen einfach verzichten würden, würde der Wettbewerb ohne Netz und doppelten Boden sein wahres Ergebnis zeigen.
Die AOK müsste vermutlich schließen, für Versicherte der AOK hingegen würde sich gar nichts ändern. Die Versicherten würden einfach in andere Kassen wie die DAK oder die so erfolgreiche Techniker Krankenkasse eingegliedert.
Platz genug hätten diese Kassen. Allein der riesige Palast der Techniker Krankenkasse in Hamburg böte genug Platz für die Verwaltung aller Krankenkassenmitglieder von Deutschland. Wenn man es rationell anstellen würde.
DR. MATTHIAS SOYKA ist Orthopäde und Buchautor.
Aktuell im Buchhandel: „Dein Rückenretter bist du selbst“, Ellert&Richter / Hamburg
www.dr-soyka.de
Youtube Kanal „Hilfe zur Selbsthilfe“
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Matthias Soyka, Dr. Bernd Hontschik und Dr. Christine Löber.