Es geht ums Ganze!
Von John Afful
Bekommen die ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungsträger den Hals nicht voll? Wer das meint, hat den Hintergrund der Proteste nicht verstanden. Denn auf dem Spiel steht die Zukunft unserer hocheffizienten, mittelständisch geprägten Versorgungsstruktur.
Krankenkassen und Bundesgesundheitsministerium versuchen, die Proteste der Vertragsärztinnen und Vertragspsychotherapeuten auf einen schnöden Honorarkonflikt zu reduzieren. Mit dem Schlagwort „Spitzenverdiener“ soll das Bild einer Berufsgruppe gezeichnet werden, die den Hals nicht voll bekommt und sogar in diesen schwierigen wirtschaftlichen Zeiten versucht, ihr persönliches Einkommen zu erhöhen. Ganz ehrlich: Ich kann diesen Schwachsinn nicht mehr hören.
Es geht um viel mehr als das persönliche Wohlergehen der KV-Mitglieder. Es geht um den Fortbestand der bewährten ambulanten Versorgungsstrukturen in Deutschland. Gerade der GKV-Spitzenverband aber auch das Bundesgesundheitsministerium wissen um die Bedeutung des Orientierungspunktwertes. Beide Institutionen wissen ganz genau, dass der Arztlohn im EBM zwar mit einkalkuliert ist – aber nur einen Teil des Honorars ausmacht. Die Inhaber vertragsärztlicher und vertragspsychotherapeutischer Praxen begleichen von diesen Einkünften auch die Betriebskosten: Sie bezahlen davon die Miete, das Verbrauchsmaterial, die Personalkosten. Sie tilgen davon ihre Schulden, investieren eventuell in neue Geräte, halten die Praxisräume in Schuss. Wenn die KV-Mitglieder nun für angemessene Honorare streiten, tun sie das auch für die Finanzierung des Systems.
Eine Extra-Vergütung für das Vorhalten von Strukturen, wie sie die Krankenhäuser im Rahmen der Krankenhausreform bekommen sollen, ist im vertragsärztlichen Bereich nicht vorgesehen. Das Bundesgesundheitsministerium schreibt zur geplanten Vorhaltevergütung für den stationären Bereich: „Mit der Vorhaltevergütung wird sichergestellt, dass Strukturen in Krankenhäusern nicht länger direkt abhängig von der Leistungserbringung geschaffen und erhalten werden können. Demnach bekommen Krankenhäuser unabhängig von der tatsächlichen Inanspruchnahme ihrer Leistungen eine feste Vorhaltevergütung.“ Die Finanzierung der Pflege kommt noch on top.
Auch für Praxen wären solche Instrumente sinnvoll, um eine stabile Finanzierungsbasis zu schaffen und um zu vermeiden, dass in bestimmten Bereichen versucht wird, die Honorarmisere durch die Erbringung von immer mehr Leistungen auszugleichen. Auch über eine direkte Finanzierung von Angestellten-Gehältern durch die Kassen sollte man nachdenken, weil die Spielregeln hier dieselben sind wie in den Krankenhäusern: Mehrkosten, die durch Gehaltserhöhungen von Angestellten entstehen, können nicht einfach an die Patientinnen und Patienten weitergegeben werden. Im normalen Geschäftsleben erhöhen Unternehmen ihre Preise, wenn sie nach einer Tarifrunde mehr Geld für ihre Angestellten ausgeben müssen. Im Gesundheitswesen geht das nicht.
Wer meint, man müsse den Praxisinhabern durch widerwillig zugestandene Honorarzuwächse einen Gefallen tun, hat den Hintergrund der Proteste nicht verstanden. Denn was wird geschehen, wenn Kassen und Politik ihrer Verantwortung für die Finanzierung des Systems nicht nachkommen? Ärztinnen und Ärzte werden weiterhin gut verdienen – zu Recht, denn sie sind hervorragend ausgebildet und tragen eine große Verantwortung. Doch sie werden ihr Geld möglicherweise nicht mehr als selbständige Praxisinhaber im GKV-Bereich verdienen. Sie können sich ihren Tätigkeitsbereich aussuchen. Gehe ich in den privatärztlichen Bereich? In die Pharmaindustrie? Der Marburger Bund konnte ordentliche Gehaltssteigerungen für die im Krankenhaus angestellten Ärztinnen und Ärzte erzielen. Da wird sich ein halbwegs rational denkender Mensch gar nicht mehr fragen: Wo fange ich an zu arbeiten? Wo setze ich meine Karriere fort? Das gleiche gilt für Medizinische Fachangestellte, die von den Krankenhäusern mit attraktiven Gehältern geködert werden.
Wir können schon jetzt beobachten, dass Praxissitze unbesetzt bleiben. Leistungen können nicht mehr sofort in Anspruch genommen werden. Es wird schwieriger, Termine zu erhalten. Die hocheffiziente, mittelständisch geprägte Struktur aus kleinen und flexiblen Versorgungseinheiten, wie wir sie heute im ambulanten Bereich noch überwiegend vorfinden, gerät finanziell unter Druck. Den selbstständigen Praxen wird die Existenzgrundlage entzogen.
Sehr geehrter Herr Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, Sie sprechen oft von der „Daseinsvorsorge“. Doch was antworten Sie den Menschen, wenn Sie auf der Straße gefragt werden: „Wo werden wir morgen noch ambulant behandelt, wenn es kaum noch Praxen geben wird?“
Der vertragsärztliche Bereich versorgt tagtäglich dramatisch mehr Patientinnen und Patienten als der stationäre Bereich. Die Praxen sind – analog zum bekannten Schlagwort aus der Pandemie-Zeit – ein Schutzwall für die Krankenhäuser. Wenn dieser Schutzwall wegfällt, treffen die Patientinnen und Patienten auf eine Krankenhaus-Landschaft, welche sie gar nicht hinlänglich aufnehmen und versorgen kann. Wir bekämen ein Gesundheitssystem, das ineffektiv und dysfunktional arbeitet – und gleichzeitig Unsummen an Geld verschlingt.
Das kann niemand wollen. Ein erklärtes Ziel der Krankenhausreform ist die Sicherung und Steigerung der Behandlungsqualität. Lauterbach schafft stationäre Strukturen, die darauf aufsetzen und zwingend darauf angewiesen sind, dass die ambulante Versorgung funktioniert. Er muss verstehen: Wenn er seine Krankenhausreform zu einem Erfolg bringen will, muss er die selbstständigen Praxen stärken.
Dieses Land braucht eine ambulante Versorgungsstruktur, die an die ärztliche Professionalität und an das im Berufsrecht kodifizierte ärztliche Ethos gebunden ist. Deutschland kann froh sein, dass die Vertragsärztinnen und Vertragspsychotherapeuten derzeit auf die Barrikaden gehen und dabei nicht nur für ihre eigenen, sondern auch für die Interessen ihrer Patientinnen und Patienten kämpfen. Doch Kassen und Politik sollten schleunigst aufhören, diesen Kampf zu denunzieren. Sie sollten sich zu ihrer eigenen Verantwortung für die Aufrechterhaltung einer guten ambulanten Versorgung bekennen und zukunftsfähige finanzielle Rahmenbedingungen schaffen.
JOHN AFFUL
Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg
Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete Version einer Rede, die John Afful auf der Krisensitzung der KBV am 18. August 2023 in Berlin gehalten hat.