"Wir freuen uns, wenn Sie kommen"
Interview
Hamburger Gesundheitspolitiker diskutieren über die Einrichtung von KV-eigenen Praxen. Ist das ein erfolgversprechendes Konzept? Die Geschäftsführerin der „KV Praxis Berlin“ berichtet, welche Erfahrungen sie mit dem Aufbau von KV-Eigeneinrichtungen gemacht hat.
Warum hat sich die KV Berlin dazu entschlossen, eigene Praxen einzurichten?
hemmen: Wir haben festgestellt, dass sich die hausärztlichen Praxen zunehmend in den westlichen Bezirken Berlins konzentrieren. In östlichen Bezirken wie in Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick hingegen wird es immer schwieriger, Arztsitze nachzubesetzen. Um diesen Trend zu stoppen, hat die KV Berlin in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen. Beispielsweise haben wir den Punktwert in den schlechter versorgten Planungsbereichen erhöht. Ein von der KV zusammen mit dem Land Berlin erstellter Letter of Intent ist an seine Grenzen gestoßen und wurde politisch nicht weiterverfolgt. In einem weiteren Schritt wurde Berlin in drei Planungsbereiche unterteilt. Während der größte Teil Berlins nach wie vor für Hausärzte gesperrt ist, gibt es nun in Marzahn-Hellerdorf/Lichtenberg sowie Treptow-Köpenick freie hausärztliche Sitze.
Diese Maßnahmen reichten nicht aus?
hemmen: Nein. Es konnten nicht genug freie Arztsitze besetzt werden. Deshalb entstand Ende 2020 die Idee, dass die KV in schlechter versorgten Bezirken selbst an der Versorgung teilnimmt. Die Möglichkeit, dies zu tun, wurde durch das TSVG eröffnet.
Waren die Mitglieder der Vertreterversammlung von Anfang an offen für diese Idee?
hemmen: Ja. Wir haben das Projekt sorgfältig vorbereitet und zusammen mit der Vertreterversammlung erarbeitet. Anfang 2021 organisierten wir einen Workshop, in dem die Mitglieder der Vertreterversammlung die Vorteile und Risiken sowie erste Konzepte diskutierten. In der Vertreterversammlung herrschte Einigkeit darüber, dass weitere Schritte folgen müssen, um dem Sicherstellungsauftrag gerecht zu werden. Ein halbes Jahr später waren wir nochmals in der Vertreterversammlung, haben den gemeinsam erarbeiteten Planungsstand präsentiert und uns den Auftrag abgeholt, das Projekt beschlussreif zu machen. Im September 2021 schließlich wurde die Umsetzung des Konzepts von der Vertreterversammlung einstimmig beschlossen. Die Gründung von Eigeneinrichtungen ist Teil eines umfangreichen Maßnahmenpakets zur Verbesserung der hausärztlichen Versorgung in den beiden abgetrennten Planungsbereichen, zu dem auch die Förderung der Niederlassung, der Einrichtung von Zweigpraxen und der Anstellung von Ärztinnen und Ärzten gehört.
Ist Berlin die erste KV, die eigene Praxen betreibt?
hemmen: Nein. Die KV Brandenburg hat meines Wissens seit 2013 vier eigene Praxen eingerichtet, die sie nach einigen Jahren allesamt an Ärztinnen und Ärzte übergeben konnte. In Sachsen-Anhalt betrieb die KV in Zusammenarbeit mit der AOK und dem Bundesland zwischenzeitlich 15 Eigeneinrichtungen, vier davon wurden von Ärztinnen und Ärzten weitergeführt. In Thüringen gab es seit 2014 über die Jahre hinweg etwa ein Dutzend vom Land unterstützte KV-Stiftungspraxen. Auch diese Praxen wurden überwiegend von Ärztinnen und Ärzten übernommen. Niedersachsen hat zwei hausärztliche Eigeneinrichtungen. Seit Juli betreibt die KV Bayerns ihre erste Eigeneinrichtung, eine Praxis für Dermatologie. Das Neue an unserem Konzept ist, dass wir eine GmbH für die Trägerschaft der Eigeneinrichtungen gegründet haben.
Warum haben Sie das gemacht?
hemmen: Damit sind unsere Praxen unabhängiger von der KV. Wir geben wie alle anderen Praxen eine Abrechnung ab, stellen Anträge und können auch in den Widerspruch gehen. Der KV-Vorstand wollte, dass die Eigeneinrichtungen nicht Teil der KV sind, sondern einen Träger bekommen, der eigenständig agiert und wirtschaftet.
Wie sind Sie bei der Suche nach Praxis-Räumen vorgegangen?
hemmen: Wir haben über die Immobilien-Portale gesucht. Wenn man weiß, welche Umsätze mit einer Hausarztpraxis zu erzielen und wie hoch die Kosten für den Praxisbetrieb sind, kann man sich ausrechnen, wie hoch die Miete sein darf. Zunächst schien es beinahe unmöglich, bezahlbare Räumlichkeiten zu finden. Wir kamen mit den Bezirksverwaltungen ins Gespräch, die uns mittlerweile unterstützen. Und wir haben Kontakt zu den Genossenschaften aufgenommen. Den ersten Standort fanden wir aber, weil sich eine Ärztin direkt an uns wandte und sagte: „Ich habe gehört, Sie wollen eine KV-Praxis eröffnen. Ich gehe in den Ruhestand, habe aber keine Nachfolge gefunden. Wäre das nicht was für Sie?“
Haben Sie mit den benachbarten Praxen über die Pläne gesprochen, eine KV-Praxis zu eröffnen? Wie waren die Reaktionen?
hemmen: Unsere erste Praxis befindet sich in Berlin Lichtenberg – in einem Ärztehaus. Der direkte Nachbar ist ein Allgemeinmediziner, die beiden Praxen sind nur durch eine Glastür getrennt. Wir haben ihn natürlich gefragt, was er davon hält, wenn gleich nebenan eine KV-Praxis eröffnet. Er sagte: „Wir freuen uns, wenn Sie kommen.“ Auch die Praxen im weiteren Umfeld sehen die KV-Praxis unserer Wahrnehmung nach als Entlastung und Unterstützung. Im Bezirk gehen viele Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand. Die restlichen Praxen werden von Patienten überrannt und finden während der Urlaubszeit gar keine Vertretung mehr.
Hat die KV Geld für die Übernahme des Arztsitzes bezahlt?
hemmen: Nein. Die KV kann aus rechtlichen Gründen gar keine Arztsitze kaufen und halten. Die Eigenreinrichtungen funktionieren ohne Sitze. Wir haben die Praxis der Ärztin in Lichtenberg nicht übernommen, sondern eine neue Praxis gegründet. Die Räume wurden komplett umgebaut und modernisiert, die Einrichtung erneuert und auf den neusten Stand gebracht.
Werden die Arztstellen in den Eigeneinrichtungen im Bedarfsplan mitgezählt, obwohl es sich nicht um Arztsitze handelt?
hemmen: Ja.
Wie haben Sie nach Ärztinnen und Ärzten und MFA für die neue Praxis gesucht?
hemmen: Ganz normal über Stellenanzeigen. Der finanzielle Aspekt ist in den Bewerbungsgesprächen häufig nur zweitrangig. Wichtiger sind den Bewerbern unserer Erfahrung nach flexible Arbeitszeiten und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch der Arbeitsort spielt eine große Rolle. Wenn eine Person in Treptow-Köpenick wohnt und die Praxisräume in Marzahn-Hellersdorf liegen, kann das bedeuten: Sie muss eine Stunde fahren.
Welche Vorteile hat es, in einer KV-Praxis zu arbeiten?
hemmen: Wer bei uns anfängt, kann sich zunächst voll auf die medizinische Versorgung konzentrieren. Die Ärztinnen und Ärzte und die MFA haben aber natürlich die Möglichkeit mitzugestalten. In die Entscheidung beispielsweise, welches PVS-System wir nutzen, wurde unser Start-Team mit einbezogen. Wir sagen den angestellten Ärztinnen und Ärzten: „Schaut euch die Arbeit in einer Praxis an. Ihr könnt selber abrechnen, ihr habt die Möglichkeit, die Arbeitsabläufe selbst zu strukturieren und zu organisieren. Aber wir unterstützen Euch.“
Welche Rolle spielt die Perspektive, dass die angestellten Ärztinnen und Ärzte später die Praxen übernehmen?
hemmen: Die angestellten Ärztinnen und Ärzte können sich ausprobieren und herausfinden: Ist die Niederlassung etwas für mich? Wir haben einen Beirat mit Hausärztinnen und Hausärzten, die sich als Mentoren zur Verfügung stellen. So werden die jungen Ärztinnen und Ärzte an die Selbstständigkeit herangeführt. Allerdings gibt es immer mehr Ärztinnen und Ärzte, die dauerhaft angestellt arbeiten möchten. Das ist ein Trend, den wir nicht ignorieren können. Deshalb fahren wir zweigleisig: Die Eigeneinrichtungen sind Lehrpraxen für künftige Selbstständige, doch wer lieber angestellt bleiben will, hat bei uns ebenfalls eine Perspektive.
Sollte sich eine Ärztin oder ein Arzt dazu entschließen, die Praxis selbständig weiterzuführen: Wie funktioniert das? Die Eigeneinrichtung hat doch keinen eigenen Sitz, den sie oder er übernehmen könnte.
hemmen: Wir haben in den zwei offenen Planungsbereichen über 100 unbesetzte hausärztliche Arztsitze, die vom Zulassungsausschuss vergeben werden. Einen Arztsitz zu bekommen, ist also kein Problem.
Woher stammt das Geld, mit dem die Eigeneinrichtungen aufgebaut werden?
hemmen: Die umfassenden Fördermaßnahmen des Sicherstellungsstatuts werden aus dem Strukturfonds finanziert. Die erste Anschubfinanzierung für die KV Praxis Berlin GmbH hat die KV aus dem Verwaltungshaushalt finanziert. Damit haben wir begonnen, zunächst die Strukturen aufzubauen.
Können die Eigeneinrichtungen Gewinn machen?
hemmen: Unser Ziel ist es, dass sich die Praxen nach einiger Zeit selbst tragen. Sollte es Gewinne geben, würden diese wieder in Eigeneinrichtungen investiert. Allerdings muss man sich nichts vormachen: Angestellte arbeiten anders als Selbstständige, deshalb werden die Umsätze geringer sein als in den inhabergeführten Praxen. Außerdem haben wir eine Kostenexplosion. Auf eine schwarze Null zu kommen, ist in dieser Konstellation nicht einfach.
Dürfen die Eigeneinrichtungen Privatpatienten behandeln?
hemmen: Ja, die Eigeneinrichtungen dürfen Privatpatienten behandeln wie alle anderen vertragsärztlichen Praxen auch. Aber wir haben in den von uns versorgten Bereichen einen Privatpatientenanteil von maximal drei Prozent. Das ist also nicht ausschlaggebend.
Wie geht es jetzt weiter mit den Berliner Eigeneinrichtungen?
hemmen: Im Oktober kommt in der Lichtenberger Praxis eine weitere angestellte Ärztin hinzu, die in Teilzeit arbeitet. Ein weiterer Standort soll Anfang 2023 eröffnen. Diese Praxisräume bauen wir gerade aus. In 2023 soll ein dritter Standort folgen.
SUSANNE HEMMEN ist Geschäftsführerin der „KV Praxis Berlin GmbH“. Zuvor arbeitete sie als Referentin in der Stabsstelle Unternehmensplanung und Organisationsentwicklung der KV Berlin.