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Wann ist es Screening – wann medizinisch indizierte Diagnostik?

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Testen auf Trisomie und die jährliche Inspektion beim Frauenarzt

Von Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)

Kriterien zur Bewertung von Screeningtests wurden erstmals 1968 von der WHO definiert, als klar wurde, dass alle Screeningmaßnahmen schaden und nur wenige auch nutzen (1). Die Kriterien beziehen sich auf den Risikofaktor bzw. die Erkrankung, das Testverfahren, die Behandlungsoptionen sowie das gesamte Programm zur Implementierung in ein Gesundheitssystem. Um den ethischen Ansprüchen ärztlichen Handelns im Sinne des „primum nil nocere“ gerecht zu werden, muss die jeweilige Screeningmaßnahme nachweislich mehr nutzen als schaden, und informiertes Entscheiden muss ermöglicht werden. Der Nutzen soll durch randomisiert-kontrollierte Studien mit patientenrelevanten Endpunkten belegt sein.

Ein medizinischer Test kann sowohl als Screeninguntersuchung als auch zur Diagnostik eingesetzt werden. An zwei aktuellen Beispielen aus der öffentlichen Gesundheitsdebatte soll die Differenzierung zwischen Screening und medizinisch indizierter Diagnostik verdeutlicht werden.

Bluttest auf Trisomie

In Deutschland sind jährlich hunderttausende Schwangere mit der Frage konfrontiert, ob sie Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen sollen. Der Screening-Leitfaden der WHO nennt als ein Ziel von Pränataldiagnostik “to detect conditions in the fetus and provide information to parents so that they can make an informed choice about whether to continue or end a pregnancy.” (1)

Seit Juli 2022 ist in Deutschland der nichtinvasive Pränataltest (NIPT) auf Trisomie 13, 18 und 21 eine Kassenleistung. Der NIPT soll jedoch keine Routineuntersuchung sein. Die Kassenzulassung beschränkt sich auf eine medizinische Indikation. Diese ist in den Mutterschaftsrichtlinien (Mu-Ri) geregelt und liegt vor, wenn eine Frau gemeinsam mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt zu der Überzeugung kommt, dass der Test in ihrer persönlichen Situation notwendig ist oder wenn sich aus anderen Untersuchungen ein Hinweis auf eine Trisomie ergeben hat, etwa aus den planmäßigen Vorsorgeuntersuchungen oder dem sogenannten Ersttrimester-Screening (ETS), das als Selbstzahlerleistung (IGeL) angeboten wird (2).

Kritiker:innen der Kassenzulassung des NIPT bemängeln, dass die medizinische Indikation nicht ausreichend klar geregelt wäre, der NIPT würde faktisch als Reihenuntersuchung auf Trisomie 21 (Down-Syndrom), eingesetzt. Eine interfraktionelle Gruppe von Abgeordneten im Bundestag fordert nun ein Monitoring der Konsequenzen der Kassenzulassung. Evaluiert werden soll auch die medizinische Beratung der Schwangeren vor und nach der Inanspruchnahme eines NIPT (3).

Der NIPT auf Trisomie 21 hat eine Sensitivität und Spezifität von über 99 %. Ein Verdachtsbefund ergibt sich für etwa 20 pro 10 000 Getestete. Die Abklärung des Verdachts erfordert eine weitere, meist invasive Diagnostik (2,4). Zum Anteil der richtig positiv Getesteten an der Gesamtheit der positiv Getesteten gibt der positive Vorhersagewert Aufschluss. Dieser positiv prädiktive Wert ist abhängig von der Vortestwahrscheinlichkeit für Trisomie 21 und damit vom Alter der Schwangeren.
Die Tabelle zeigt Beispiele für 20-Jährige und 40-Jährige. Die Zahlenangaben sind Schätzwerte (2,4).

Tabelle: Testung mit dem NIPT auf Down-Syndrom

Das IQWiG hat eine evidenzbasierte Versicherteninformation zum NIPT entwickelt (5). Sie ist Teil der Mu-Ri (2). Offen bleibt, ob und in welcher Weise diese den Frauen auch vorgelegt wird und wie die Beratungsgespräche in den Arztpraxen ausfallen. Zudem erscheint es plausibel, dass der NIPT nicht ausschließlich im Sinne der medizinischen Indikation, sondern als Screening auf Down-Syndrom eingesetzt wird, denn Screening auf Down-Syndrom wurde auch schon vor Kassenzulassung des NIPT angeboten und nachgefragt. Entweder haben die Schwangeren den NIPT privat finanziert oder es wurde das sogenannte Ersttrimesterscreening (ETS) durchgeführt (5,6).

Das ETS besteht aus einer Ultraschalluntersuchung und der Bestimmung von Biomarkern. Dieses Screening sucht nicht nur nach Hinweisen auf Down-Syndrom, sondern auch nach Fehlbildungen und anderen Auffälligkeiten des Fetus. Ein Cochrane Review findet für das ETS auf Down-Syndrom eine Sensitivität und Spezifität von etwa 95 % (6).

Die Abklärung erfordert weitere, teils invasive Diagnostik. Das ETS ist keine reguläre Kassenleistung, sondern wird als IGeL von den Schwangeren selbst bezahlt. Ein systematisches Monitoring zum Einsatz, den Folgen und den Beratungsprozessen fehlt für das ETS. Auch steht für das ETS keine, der NIPT Broschüre für Schwangere vergleichbar gute, Entscheidungshilfe zur Verfügung. Unnötige Schwangerschaftsabbrüche, Verunsicherung oder auch falsche Beruhigung der Schwangeren könnten nicht nur Folge des NIPT, sondern auch Folge des ETS sein.

Die Screening-Kriterien der WHO (1) stützen die Forderung der Bundestagsabgeordneten nach Monitoring und Evaluation zur Differenzierung zwischen medizinischer Indikation und Screening bei Einsatz des NIPT (3). Allerdings sollte die Evaluation auch auf das als IGeL angebotene ETS ausgeweitet werden. Aus Perspektive der Evidenzbasierten Medizin (EbM) wäre eine aussagekräftige Studie zum Vergleich der beiden Verfahren geboten, um die Auswirkungen des Screenings sowohl für den NIPT als auch für das ETS beurteilen zu können. Insbesondere müsste geprüft werden, ob den Betroffenen das ethisch verbriefte Recht auf eine informierte Entscheidung ermöglicht wird.

Vaginaler Ultraschall

Der vaginale Ultraschall wird sowohl als Screeningtest als auch zur Abklärung von Beschwerden eingesetzt, beispielsweise zur Diagnostik einer Endometriose. Die Untersuchung ist dann medizinisch indiziert und wird von der Krankenkasse bezahlt. Hingegen ist das Screening mit dem vaginalen Ultraschall auf Eierstockkrebs keine Kassenleistung, da für diese Screeninguntersuchung der Schaden überwiegt. Randomisiert-kontrollierte Studien konnten keine Abnahme der Krebssterblichkeit finden. Das Screening führt jedoch zu einer Zunahme an unnötigen operativen Eingriffen aufgrund falscher Verdachtsbefunde. Eine sachgerechte Aufklärung der Versicherten müsste darüber informieren, dass diese Untersuchung nachweislich keinen Nutzen hat, jedoch ein relevantes Schadenspotenzial. Dennoch wird der vaginale Ultraschall als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) den Frauen in Deutschland weiterhin verkauft.

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung hat daher kürzlich vorgeschlagen, die vaginale Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Eierstock- und Endometriumkarzinom sowie andere IGeL ohne Nutzennachweis zu verbieten (7). Die Reaktion des Berufsverbands der Frauenärzte erfolgte prompt in einer offenen Stellungnahme. Mit Unterstützung der gynäkologischen Fachgesellschaft versucht der Berufsverband, die Notwendigkeit dieser IGeL medizinisch zu begründen (8).

Zwar wird bestätigt, dass sich der vaginale Ultraschall nicht als Screeningtest zur Früherkennung von Krebs eignet. Das Hauptargument für das Angebot einer transvaginalen Sonografie wäre jedoch „die komplettierende Erweiterung der gynäkologischen Routineuntersuchungen“, die Untersuchungsmethode würde „gut das gesamte kleine Becken visualisieren“. Der Fokus liege hierbei „auf den viel häufigeren funktionellen und gutartigen Veränderungen sowie gynäkologischen Problemen“. Veränderungen sollten nicht erst im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert werden.

Aus Perspektive der EbM und der WHO wäre dies ein ungezieltes, unkontrolliertes und nicht qualitätsgesichertes Screening mit hohem Schadenspotenzial (1).

Zur wissenschaftlichen Begründung seiner Aussagen zitiert der Berufsverband eine nicht kontrollierte Querschnittstudie einer Radiologin aus Mumbai (8). Diese hat eine Gruppe selbst-selektionierter Frauen in einem ‚Camp Setting‘ auf einer indischen Insel mit dem vaginalen Ultraschall untersucht und dabei bei etwa 10 % Auffälligkeiten gefunden. Unklar bleibt, nach welchem methodischen Verfahren der Berufsverband zur Auswahl dieser Publikation kommt, um das Screening gesunder Frauen in deutschen gynäkologischen Praxen wissenschaftlich zu begründen.

Die jährliche frauenärztliche Inspektion und Palpation des äußeren und inneren Genitale ist in Deutschland eine Kassenleistung. Sie wird ohne medizinische Indikation als Screeninguntersuchung an gesunden bzw. beschwerdefreien Menschen durchgeführt. Eine wissenschaftliche Begründung für diese Routineuntersuchung gibt es nicht. Ein systematischer Review zur routinemäßigen gynäkologischen Untersuchung des kleinen Beckens findet keine Evidenz für einen Nutzen dieses Verfahrens (9).

Jede Ausweitung eines Screenings, z.B. mit dem vaginalen Ultraschall im Rahmen der jährlichen frauenärztlichen Inspektion, ist bei beschwerdefreien Personen ein nicht medizinisch indiziertes Testen. Je ungezielter gesucht wird, umso häufiger finden sich Auffälligkeiten, die weitere diagnostische Maßnahmen zur Folge haben. Die Kosten dafür werden durch die Versichertengemeinschaft getragen.

Ungezieltes, anlassloses Testen ist potenziell gesundheitsgefährdend (1). Schaden entsteht durch Überdiagnosen und Übertherapie, unnötige Verängstigung und durch Ressourcenbindung. Die Ärzt:innen sind mit der Aufarbeitung von Verdachtsbefunden zeitlich und personell gebunden, zum Nachteil der kranken Menschen.

Nach den Kriterien der EbM sind die Forderungen des Patientenbeauftragten der Bundesregierung nach einem Verbot von IGeL ohne Nutzennachweis zu unterstützen, wenn das Schadenspotenzial das Nutzenpotenzial überwiegt. Eine Erweiterung der bereits bestehenden Routineuntersuchungen ohne wissenschaftlichen Nutzenbeleg sollte den Bürger:innen nicht als IGeL verkauft werden.

UNIV.-PROF. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
Universität Hamburg
MIN Fakultät / Gesundheitswissenschaften
E-Mail: Ingrid.Muehlhauser@uni-hamburg.de
Tel: 040 / 42838 - 3988

Literatur:

1) WHO Regional Office for Europe (2020). Screening programmes: a short guide. Increase effectiveness, maximize benefits and minimize harm.

2) Gemeinsamer Bundesausschusses (2023). Mutterschafts-Richtlinie/Mu-RL.

3) Rüffer C et al. (2024) Antrag zu: Kassenzulassung des nichtinvasiven Pränataltests – Monitoring der Konsequenzen und Einrichtung eines Gremiums. Deutscher Bundestag.

4) Gießelmann K (2020) Nichtinvasive Pränataltests: Risiko für Fehlinterpretation. Dtsch Arztebl 2020; 117(7): A-320 / B-285 / C-274

5) Gesundheitsinformation.de (2022) Bluttest auf Trisomien (nicht invasiver Pränataltest – NIPT)

6) Alldred SK et al. (2017) First trimester ultrasound tests alone or in combination with first trimester serum tests for Down's syndrome screening. Cochrane Database of Systematic Reviews.

7) DPA (2024) Debatte um Verbot bestimmter individueller Gesundheitsleistungen. News online Deutsches Ärzteblatt. 4. April 2024

8) Berufsverband der Frauenärzte e.V. (BVF) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) (2024) Gemeinsame Stellungnahme zur Kritik an Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) in der Frauenheilkunde. April 2024

9) Guirguis-Blake JM, Henderson JT, Perdue LA (2017) Periodic screening pelvic examination: Evidence Report and Systematic Review for the US Preventive Services Task Force. JAMA 317: 954-966.