Dramatische Effekte: Wann braucht es kein RCT und wann doch – am Beispiel Jodmangel
Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin
Von Dr. med. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)
Ohne Fallschirm ist ein Sprung aus dem Flieger nicht zu überleben. Die Wirksamkeit eines funktionsfähigen Fallschirms ist offensichtlich. Wir sprechen von einem dramatischen Effekt. Der Nutzennachweis braucht keine verblindete, randomisiert-kontrollierte Studie (RCT).
Unsinnigerweise wird das Fallschirmbeispiel immer wieder benutzt, um die Notwendigkeit von RCTs in Frage zu stellen oder die Evidenzbasierte Medizin zu diskreditieren.
Das Methodenhandbuch des IQWiG erläutert, wann dramatische Effekte RCTs überflüssig machen: Ist der Verlauf einer Erkrankung sicher oder nahezu sicher vorhersagbar und bestehen keine Behandlungsoptionen zur Beeinflussung dieses Verlaufs, so kann der Nutzen einer medizinischen Intervention auch durch die Beobachtung einer Umkehr des (quasi)deterministischen Verlaufs bei einer gut dokumentierten Serie von Patientinnen und Patienten abgeleitet werden (1).
Klassisches Beispiel ist die Insulinsubstitution bei Typ 1 Diabetes. Im Jahr 1922 wurde erstmals ein Kind mit Insulin behandelt. Innerhalb von vier Wochen hat sich das kachektische und moribunde Kind zu einem fröhlichen und gesunden Menschen entwickelt. Ohne Insulin können Menschen nicht leben. Vor der Entdeckung des Insulins sind die meist jungen Patient:innen oft schon innerhalb weniger Tage oder Wochen verstorben. Nur selten haben sie mehrere Monate überlebt.
Ein ähnliches Beispiel ist die Jodsubstitution zur Prävention einer schweren Entwicklungsstörung, die früher als „Kretinismus“ bezeichnet wurde. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts war schwerer Jodmangel eine weit verbreitete Plage in der Schweiz und anderen Alpenregionen. In besonders betroffenen Ortschaften litten 10 % der Kinder an Kretinismus. Sie kamen gehörlos und geistig schwer behindert zur Welt.
Fast alle Schulkinder hatten abnorme Schwellungen des Halses, viele Erwachsene einen Kropf, manche eine monströse oder maligne Struma. Die Ursache für diese schreckliche Erkrankung war bis Anfang des letzten Jahrhunderts unbekannt.
Der Journalist Jonah Goodman hat in einem historischen Beitrag für die Zeitschrift „Das Magazin“ im Schweizer Tages-Anzeiger die bemerkenswerte Aufklärung dieses Rätsels spannend für die Leserschaft recherchiert und erzählt. Der Autor erhielt für diesen lesenswerten Beitrag den diesjährigen Journalistenpreis des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (2).
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert konzentrierte sich die medizinische Fachwelt bei der Ursachensuche auf pathophysiologische Theorien. Die Experten vermuteten Mikroben als Verursacher von Kretinismus und Kropf, obwohl solche niemals nachgewiesen werden konnten. Und sie beharrten darauf, dass die pathophysiologischen Mechanismen geklärt sein müssten, bevor eine Behandlung an Menschen eingesetzt werden dürfe. Sie verhinderten damit auch patientenrelevante klinische Forschung.
Jonah Goodman berichtet, wie sich drei Schweizer Landärzte gegen die etablierte Lehrmeinung durchsetzen. Zum Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit der Jodierung von Speisesalz führten sie eine Reihe von immer umfangreicheren Experimenten und Dosis-Wirkungsstudien mit den betroffenen Familien in den Gebirgsdörfern der Schweiz durch, bis sie die skeptische Professorenschaft überzeugen konnten.
Nach wenigen Monaten gab es bei den behandelten Familien keine neuen Fälle mehr von Kretinismus und Gehörlosigkeit. Die Erfolge der Behandlung waren so offensichtlich, dass die Behörden ihre Zustimmung zur Einführung von Jodsalz gaben, ohne zu wissen, wie die Maßnahme tatsächlich funktionierte.
Die pathophysiologische Aufklärung des Wirkmechanismus erfolgte erst 30 Jahre später. Die Supplementierung von Speisesalz mit Jod hatte dramatische Effekte. Heute sind Kretinismus und maligne Kropferkrankungen verschwunden.
Jodmangel ist ein weltweites Gesundheitsproblem (3). Auch Deutschland gilt als Jodmangelgebiet (3,4). Schilddrüsenerkrankungen durch Jodmangel wie die knotige Struma sind in Deutschland weiterhin verbreitet. Eine Empfehlung zur Nutzung von jodiertem Speisesalz in der industriellen Lebensmittelproduktion wurde hier erst Mitte der 80er Jahre ausgesprochen. Die Futtermitteljodierung und die Empfehlung einer generellen Nutzung von jodiertem Speisesalz hat die Jodversorgung der Bevölkerung in Deutschland zunächst deutlich verbessert. Gemessen wird diese an der Jodausscheidung im Urin. Das Monitoring erfolgt durch das Robert-Koch-Institut.
Zuletzt sind die Werte jedoch wieder abgefallen und weisen auf einen leichten bis mittelschweren Jodmangel der deutschen Bevölkerung hin (3,4). Als Ursachen werden der niedrige Nutzungsgrad von jodiertem Speisesalz in Fertigprodukten, sowie der geringe Gebrauch von jodiertem Speisesalz in privaten Haushalten genannt (3). Die Nutzung von jodiertem Speisesalz ist in Deutschland bisher freiwillig.
Das Problem der Unterversorgung mit Jod scheint den hiesigen Behörden bekannt zu sein. Auf der Website www.gesund-bund.de des Bundesgesundheitsministeriums gibt es neuerdings eine Gesundheitsinformation zu Kropf (5). Danach hätten hier an die 20 Prozent der Erwachsenen eine Struma. Möglicherweise gibt es in Deutschland neben der enormen Überdiagnostik und Fehlbehandlung von Schilddrüsenbefunden ein Präventionsproblem mit jodiertem Speisesalz.
Schilddrüsenerkrankungen mit all ihren medizinischen Komplikationen und Folgen stellen eine erhebliche Belastung für das Gesundheitssystem dar.
Die Arbeitsgruppe von Uwe Siebert der UMIT Universität Hall in Tirol hat kürzlich in einem EU-Projekt die ökonomischen Folgen von Jodmangelerkrankungen in Deutschland analysiert (6). Es geht um die Frage, ob es in Deutschland nicht eine generelle Jodierung von Speisesalz geben sollte, also eine verbindliche Nutzung in der Lebensmittelindustrie. Nur mehr ein Drittel der Fertigprodukte enthält jodiertes Speisesalz und die freiwillige Verwendung im privaten Haushalt reicht nicht aus. In unseren Supermärkten wird ironischerweise nicht-jodiertes Speisesalz als Alpensalz und Meersalz angeboten. Die drei Schweizer Ärzte hatten jodiertes Speisesalz sinnvollerweise Vollsalz genannt. Ratschläge zur Bewertung des Jodgehalts von Salzprodukten, Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln finden sich bei der Verbraucherzentrale (7).
Die Studie der Arbeitsgruppe aus Hall in Tirol weist auch darauf hin, dass es an klinischen Studien fehlt zu vielen offenen Fragestellungen der Versorgung mit Jod in der deutschen Bevölkerung (6). Die Evidenzlage aus RCTs ist mangelhaft, selbst für schwangere und stillende Frauen, denen eine Supplementierung mit Jodid-Tabletten generell empfohlen wird (8). Auch für bestimmte Personengruppen ergeben sich spezifische Fragestellungen, etwa bei veganer oder salzarmer Ernährung. Auch die Frage, ob Jodsupplementierung bei leichtem Jodmangel die Krankheitslast durch Schilddrüsenerkrankungen in Deutschland reduzieren kann, erfordert gezielt geplante RCTs.
Fazit: Die Behandlung von schwerem Jodmangel hat dramatische Effekte, es braucht keine randomisiert-kontrollierte Studie. Hingegen kann beispielsweise die Frage, ob bei leichtem bis mittleren Jodmangel eine Supplementierung mit Jodid-Tabletten das Risiko für Schilddrüsenerkrankungen reduzieren kann, nur mit gut geplanten randomisiert-kontrollierten Studien verlässlich beantwortet werden.
UNIV.-PROF. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
Universität Hamburg / MIN Fakultät, Gesundheitswissenschaften
E-Mail: Ingrid_Muehlhauser@uni-hamburg.de
Tel: 040 / 42838 3988
Literatur:
1) IQWiG (2022) Allgemeine Methoden. Entwurf für Version 7.0 vom 06.12.2022; https://www.iqwig.de/methoden/allgemeine-methoden_entwurf-fuer-version-7.pdf
2) Jonah Goodman (2022) Wie drei Landärzte die Schweiz vom Kropf erlösten. Das Magazin 37: 10-19; https://www.tagesanzeiger.ch/wie-drei-heldenhafte-aerzte-die-schweiz-vom-kropf-erloesten-581754522295
https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/nachrichten/journalistenpreis-ebm-fuer-jonah-goodman
3) Zimmermann MB, Andersson M (2021) Global perspectives in endocrinology: coverage of iodized salt programs and iodine status in 2020. European Journal of Endocrinology 185: R13–R21; https://doi.org/10.1530/EJE-21-0171
4) Remer Th, Hua Y, Esche J, Thamm M (2022) The DONALD study as a longitudinal sensor of nutritional developments: iodine and salt intake over more than 30 years in German children. European Journal of Nutrition 61: 2143–2151; https://doi.org/10.1007/s00394-022-02801-6
5) Gesund.bund.de: Kropf (Struma); https://gesund.bund.de/kropf-struma
6) Schaffner M, Rochau U, Mühlberger N, et al. (2021) The economic impact of prevention, monitoring and treatment strategies for iodine deficiency disorders in Germany. Endocrine Connections 10: 1–12; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7849460/
7) Verbraucherzentrale. Jodversorgung ist in Deutschland wieder rückläufig. Stand: 03. April 2023 https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/jodversorgung-ist-in-deutschland-wieder-ruecklaeufig-8159
8) Croce L, Chiovato L, Tonacchera M, et al. (2023) Iodine status and supplementation in pregnancy: an overview of the evidence provided by meta-analyses. Rev Endocr Metab Disord 24: 241–250; https://doi.org/10.1007/s11154-022-09760-7