Fight Club
Kolumne
von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen
Eigentlich hatte ich vor, einen sehr satirischen, aber auch lustigen Text über die Schuldfrage bezüglich der Missstände unseres Gesundheitswesens zu schreiben.
Dann kam allerdings der heutige Tag dazwischen, und ich kann nun leider nicht anders, als Ihnen einen wahrscheinlich deutlich zu emotionalen Ausbruch zu präsentieren. Aber auch wir Mediziner*innen haben Gefühle, und mitunter müssen die dann auch mal raus, statt in ein angestrengt lächelndes „Was kann ich für Sie tun?“ verwandelt zu werden.
Als Vorbemerkung möchte ich gleich sagen, dass es nicht darum geht, pauschale Vorwürfe gegen die Menschheit niederzuschreiben, sondern darum, ein sonderbares Phänomen des heutigen medizinischen Alltags darzustellen.
Es fängt schon schlecht an.
Heute Morgen hat eins meiner Familienmitglieder aufgehört zu atmen.
Erster Tag nach dem Urlaub, Kaltstart. 112, Notarzt, Reanimation, Intubation, schnelle, schwere Entscheidungen vor dem Frühstück.
Sprechstunde absagen, um bei der Familie zu sein?
Mann: „Naja, es ist voll.“
Ich: „Naja, es ist genaugenommen übervoll.“
Und ab zur Arbeit.
Nach kurzer Gefühlssammlung in einer Ecke auf dem Parkdeck vor der Praxis quetsche ich mich an der Schlangentraube im Treppenhaus vorbei. Man empfindet da eine besondere Art der Beklemmung: Einerseits ist es ein rein räumliches Erstickungsgefühl, andererseits läuft im Kopf im Vorbeigehen schon der Film ab, der sich in wenigen Minuten oben am Tresen abspielen wird.
Dieser Film ist in vielen Szenen so bizarr, dass man als Zuschauer am Verstand des Regisseurs zweifeln könnte, aber der Regisseur ist ja das Leben, und deswegen ist da alles möglich. Wirklich alles.
Es beginnt damit, dass die Schlangentraube sich in die Praxis hineindrückt. Hierbei ist das einzige Ziel, Erster zu sein. Es geht kaum noch um Krankheiten, und vor allem nicht um Krankheiten von anderen, es geht nur noch darum, auf keinen Fall zu kurz zu kommen. Ein düsteres Gefühl des potentiellen Benachteiligtwerdens erhebt den Ohrschmalzpfropfen zu einem lebensbedrohlichen Siechtum. Und dieses wird dann auch der noch tief durchatmenden MFA in Blaulichtfarben und Sirenendröhnen geschildert. Wir sind keine ZNA, aber auch in unserer kleinen HNO-Welt muss man angesichts der Menschenmassen triagieren.
Triage ist etwas, das meist schlecht angenommen wird. Die Kranken sind zwar sehr dankbar für dieses Verfahren, die vergleichsweise nicht sehr Kranken eröffnen aber spätestens jetzt den Fight Club.
Das Wegdrängeln anderer Patient*innen beginnt, die Stimme erhebt sich, Unverständnis wabert durch die Anmeldung. Hier und da zeigt sich der erste Stinkefinger.
Freundliche Erklärungen und Lösungsvorschläge seitens der MFAs wirken wie ein Turbotrigger, und nun geht das Dominospiel los. Einem wird aus Kapazitätsgründen ein Termin am (auch schon übervollen) Nachmittag angeboten, das wird kommentiert mit: „Frechheit! Ich bin ja jetzt krank!“ Türenknallen, Schimpfwörter. Das inspiriert den nächsten, der eigentlich zwei Tage später einen regulären Termin hat, aber seit zehn Minuten Halspieksen merkt. Tritte gegen das Mobiliar, Schimpfwörter der Meisterklasse gegen die MFAs, andere Patient*innen und die ganze Welt. So setzt es sich fort. Eine Granate aus gefühlt Abgewiesenen, Verlorenen und Missachteten verlässt die Praxis und hinterlässt schon im Treppenhaus die passende Googlebewertung.
Dazwischen stehen verloren einzelne, sehr liebe und geduldige Menschen, die einfach nur zum Arzt möchten, egal wann. Das sind dann diejenigen, die wirklich eine Behandlung benötigen, aber von der Fight-Club-Riege überrannt werden.
Ich habe unterdessen vier Akutkranke und zwei Terminpatient*innen behandelt, gucke zwischendurch immer aufs Handy, nach jeder Otalgie könnte da eine Todesmitteilung stehen.
Im Beschwerdeschwall einer Patientin, die sich als Notfall mit drei Ausrufezeichen angemeldet hatte, dann aber doch nur eine Abklärung von seit Jahren bestehenden, moderaten Beschwerden auf dem Wunschzettel hatte, sage ich: „Es ist hier heute sehr voll. Jemand aus meiner Familie stirbt gerade. Ich kann heute auch nicht mehr.“
Pause.
Antwort: „Ja, aber ich sitze ja jetzt schon seit halb neun hier.“
Es sind die kleinen Schläge in die Magengrube, die diesen Beruf abrupt so unangenehm machen können. Wir, die die fettgedruckte Empathie lebenslang mit sich herumtragen, treffen da plötzlich auf Menschen, die in einem abgeschotteten Tunnel um ihr Zu-Kurz-Kommen kreisen.
Vorn am Tresen gibt es endlose Diskussionen. Termindiskussionen, Krankheitsdiskussionen, Gerechtigkeitsdiskussionen.
Plötzlich kommt Geschrei vom Anrufbeantworter.
Jemand möchte uns bei der Ärztekammer anzeigen, weil wir ihn aufgrund der Überlastung heute Morgen nicht behandeln konnten.
Unärztliche Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ich will nicht mehr helfen, will diese Auseinandersetzungen nicht mehr, will keine schreienden Anrufbeantworter.
Ich will die Praxis zumachen und mit meinem Kollegen ein Café eröffnen. Wahrscheinlich schreien dann irgendwelche Leute wegen der Crema, aber so what. Im Kaffee ist nur Kaffee und keine Empathie. Wenn ich schon der Mülleimer sein soll, dann doch eher der für angegriffene Macchiatotrinker und nicht für Menschen, denen ich ehrliche Bemühungen entgegenbringe.
Insbesondere in den letzten zwei Jahren hat die Aggressivität und Reizbarkeit der Menschen zugenommen. Bedrohungen und Beleidigungen gegen Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens sind normal geworden.
Natürlich setzen Katastrophen wie Pandemien und Kriege Ängste und Verwirrungen frei. Natürlich habe ich jedes Verständnis dafür, ich bin auch kein fröhlicher Schmetterling auf einer Blumenwiese.
Aber was uns scheinbar mehr und mehr verlorengeht, ist ein ganz normales soziales Grundverständnis. Mitgefühl. Die Fähigkeit, in rationalen Bahnen im Sinne der Gesellschaft zu denken, verschwindet zugunsten einer ständig leidenden Egozentrik.
Was man da machen soll? Überlege ich später.
Ich gehe jetzt zur Familie und höre mir die Emotionen von anderen an.
Danke fürs Zuhören.
DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.