6/2024 6/2024

Wo bleibt der Aufschrei?

Von Dr. Monica Thieme

Die geplanten Hausarzt-Pauschalen setzen Einzelpraxen unter Druck: Wie sollen wir neben endlosen Arbeitstagen noch Abend-Sprechstunden und zusätzliche Hausbesuche bewältigen? Die Vergütungsreform kommt vor allem den MVZ und Großpraxen zugute.

Mir ist unerklärlich, warum der GVSG-Referentenentwurf keinen ohrenbetäubenden Aufschrei unserer Standesvertretung ausgelöst hat. Als ich von den Plänen des Bundesgesundheitsministeriums zur hausärztlichen Vergütungssystematik gelesen habe, war ich erschrocken über den Inhalt und befremdet über die Gleichgültigkeit, mit der (auch hier im KVH-Journal) darüber berichtet wurde.

Ich betreibe seit 20 Jahren eine Einzelpraxis in Billstedt, arbeite mindestens 60 Stunden pro Woche und fühle mich oftmals wie ein Hamster im Laufrad: Ich strample und strampele, ohne wirtschaftlich in einen sicheren Bereich zu kommen, weil ich in der Einzelpraxis sämtliche Kosten alleine erwirtschaften muss.
Was als Gehalt für mich übrigbleibt, liegt oftmals unter dem Mindestlohn. Man muss klar sagen: In einem sozialen Brennpunkt ohne Privatpatienten kann eine allgemeinmedizinische Einzelpraxis kaum noch überleben. Das ist ein Fehler im System – und die geplante Vergütungsreform wird das Problem vermutlich noch verschärfen.

Vorhaltepauschale für hausärztlichen Versorgungsauftrag
Das Bundesgesundheitsministerium will eine neue Vorhaltepauschale einführen. Um sie abrechnen zu können, muss man einige Voraussetzungen erfüllen – und dazu gehört auch, Abend- und Samstags-Sprechstunden anzubieten.

Das Bundesgesundheitsministerium hat offenbar keine Vorstellung davon, was wir Ärztinnen und Ärzte an normalen Arbeitstagen leisten. Ich stehe morgens um fünf Uhr auf und komme abends um 19.30 Uhr nach Hause. Ich möchte neben der Praxis noch ein eigenes Leben führen, zu dem Haushaltsführung und Lebensmitteleinkauf gehören und natürlich auch Zeit zum Regenerieren.

Wenn ich jetzt auch noch abends und am Wochenende die Praxis öffnen müsste, wäre es vorbei mit Eigen-Fürsorge und Privatleben. Ich würde vollends von der Arbeit für die Praxis aufgefressen.
Und wie soll ich meinen Mitarbeitern erklären, dass sie jetzt auch abends und am Wochenende arbeiten sollen? Die werden ziemlich sicher den Arbeitsplatz wechseln, und ich könnte es ihnen nicht mal übelnehmen. Unsere Mitarbeiter arbeiten ohnehin bereits am Limit, um die Praxis am Laufen zu halten.
Durch familienfeindliche Arbeitszeiten wird es noch schwieriger als ohnehin schon, Mitarbeiter für die Praxis zu finden.

Und es wird für mich fast unmöglich werden, meine Praxis irgendwann an einen Nachfolger abzugeben. Alle beklagen den Nachwuchsmangel im hausärztlichen Bereich. Aber im Ernst: Wer will denn so arbeiten?
Die Anforderungen werden immer höher. Wir sollen noch schneller laufen im Hamsterrad, noch mehr Leistung erbringen – für gleichbleibend schlechte Honorare, die kaum zum Überleben der Praxis ausreichen. Die Anspruchshaltung der Patienten ist sowieso schon hoch und wird durch zusätzliche Verfügbarkeitsversprechen noch weiter befördert.

Eine weitere Voraussetzung für die Abrechnung der Pauschale soll sein, dass wir regelhaft Hausbesuche bei Patienten über 75 Jahren durchführen. Das ist völlig unsinnig: Warum soll ich alte Leute zu Hause besuchen, wenn diese zu mir in die Praxis kommen können?
Etwa 40 Prozent meiner Patienten sind über 75 Jahre alt. Wenn ich bei dieser Klientel einmal pro Quartal Hausbesuche machen soll, wären das mehr als 120 im Monat. Nur Routine-Hausbesuche. Nicht eingerechnet sind jene Hausbesuche, die aufgrund einer akuten Erkrankung oder Fragestellung nötig werden. Wie soll das gehen?

Man könnte einwenden, dass eine Praxis nicht alle Voraussetzungen erfüllen muss und sich mit einer abgestaffelten Pauschale zufriedengeben könnte. Die Frage ist: Kann man sich eine Abstaffelung leisten? Ich werde versuchen müssen, die Pauschale ohne Abzüge zu bekommen.

Die Voraussetzungen für die Pauschale zu erfüllen, fällt großen Versorgungseinheiten mit einer großen Anzahl von Ärztinnen und Ärzten und Angestellten sehr viel leichter. Überhaupt drängt sich der Verdacht auf, dass durch die Vergütungsreform Polikliniken, MVZ und große Praxen nach Kräften gefördert und die kleinen, inhabergeführten Praxen kaputt gemacht werden sollen.

Jährliche Versorgungspauschale
Des Weiteren plant das Bundesgesundheitsministerium eine jährlich abrechnungsfähige Versorgungspauschale. Woher soll ich wissen, in welchen Praxen sich die von mir versorgten Patienten sonst noch behandeln lassen? Es kostet ja nichts, mit der All-you-can-eat-Versichertenkarte kann man durch die Praxen tingeln und unbegrenzt Leistungen in Anspruch nehmen.

Ich versorge also einen Patienten, kümmere mich intensiv um ihn, und hinterher heißt es möglicherweise: „Nö, der war schon in einer anderen Praxis, du kriegst die Pauschale nicht.“ Die Patienten müssen sich nicht einschreiben, sie werden nicht durch das Gesundheitssystem geführt. Das finanzielle Risiko für Doppel- und Dreifachversorgungen trägt am Ende der Arzt.

Entbudgetierung
Ja, Entbudgetierung ist prima. Wenn man die Leistungen der Hausärzte voll bezahlen und ansonsten alles beim Alten lassen würde, könnten wir ein wenig aufatmen. Doch nun gibt es Zusatz-Anforderungen, die für Einzelpraxen eigentlich kaum erfüllbar sind. Und das Geld für die Entbugetierung wird an anderer Stelle vermutlich wieder einkassiert.

Die Honorare werden ja zwischen Kassen und KBV beziehungsweise KV ausgehandelt. Wir wissen aus Erfahrung: Die Kassen wollen nicht zahlen, sie fordern Nullrunden. KBV und KV sind keine durchsetzungsstarken Verhandler und lassen sich über den Tisch ziehen. Dann kommt das schulterzuckende: „Mehr war nicht drin.“ Das bedeutet meiner Ansicht nach: Es wird kein zusätzliches Geld ins System kommen.
Am Ende werden wir vielleicht sogar weniger Honorar haben als vorher – und dazu noch ein kompliziertes Vergütungssystem, das für niemanden mehr nachvollziehbar ist.

Ich würde mir wünschen, dass die KV sich bei der Umsetzung des GVSG für uns gerade macht und unsere Interessen vertritt. Sie sollte jetzt vernehmlich die Stimme erheben, die Fallstricke und Stolpersteine des Referentenentwurfs klar benennen und alles daransetzen, die schlimmsten Auswirkungen der Neuregelungen für die selbstständigen Einzelpraxen zu verhindern.

DR. MED. MONICA THIEME
Allgemeinmedizinerin in Billstedt

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel bezieht sich auf den Referentenentwurf des GVSG vom 8. April 2024. Im Entwurf, der am 22. Mai 2024 vom Kabinett gebilligt wurde, sind Wochenend-Sprechstunden nicht mehr als Voraussetzung für die Vorhaltepauschale genannt.

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