6/2024 6/2024

Hyaluronsäure bei Kniearthrose

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Sinnvolle IGeL oder Placebo?

Von Roland Büchter und Prof. Dr. Dawid Pieper im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)

Bei Arthrose-Patienten dürften intraartikuläre Hyaluronsäure-Injektionen zu den häufigsten Selbstzahler-Leistungen gehören. In einer Befragung von BARMER-Versicherten gaben 25% der Patientinnen und Patienten mit Kniearthrose an, in den letzten 12 Monaten eine Injektion in Anspruch genommen zu haben (n=932). Diese wurde fast immer in einer orthopädischen Praxis durchgeführt (91%). (1)
Zwar wurde nicht untersucht, um welche Art der Injektion es sich handelt, eine 2023 durchgeführte Befragung von 5.850 GKV-Versicherten listet Hyaluronsäure-Injektionen jedoch als die häufigste IGeL bei Kniearthrose. (2) Aber wie steht es um die Evidenz für diese Spritzen?

Die Notwendigkeit methodisch sorgfältiger Evidenzsynthesen

Eine Arbeitsgruppe der Universität Bern führte 2012 eine systematische Übersicht und Metaanalyse randomisierter Studien zu Hyaluronsäure-Injektionen bei Kniearthrose durch. (3) Diese Arbeit zeichnete sich damals durch ein methodisch-rigoroses Vorgehen aus, das viele andere Übersichtsarbeiten zu den beliebten Spritzen vermissen lassen.
Unter anderem legte die Wissenschaftlergruppe großen Wert darauf, alle relevanten Studien auszuwerten, um Verzerrungen aufgrund eines „Schubladen-Problems“ zu vermeiden. Dieses Phänomen wurde 1979 erstmals von Rosenthal beschrieben und ist heute eher im Zusammenhang mit dem Publikationsbias bekannt – und im Volksmund als Rosinenpickerei geläufig. Es beschreibt die Forschungspraxis, dass „negative“ Studien – also Studien ohne statistisch signifikante Ergebnisse – eher wieder in der Schublade verschwinden, weil sie weniger Nachrichtenwert haben und schwerer zu publizieren sind.

Verzerrungen durch unveröffentlichte Studienergebnisse

In der Tat identifizierte die Autorengruppe über Suchquellen wie Studienregister 6 unveröffentlichte Studien mit 1.357 Patientinnen und Patienten. Über Hersteller-Anfragen, die US-amerikanische Zulassungsbehörde Food and Drug Administration und eine anonyme Quelle gelang es der Gruppe damals, auch diese Daten in ihren Auswertungen zu berücksichtigen. Ein Hersteller war nicht bereit, die Ergebnisse seiner Studie zur Verfügung zu stellen.
Die Autorengruppe kam damals zu dem Schluss, dass Hyaluronsäure-Injektionen bei Kniearthrose keine klinisch relevanten Effekte gegenüber Placebo-Injektionen haben. Eine separate Auswertung der Daten aus den unveröffentlichten Studien zeigte für den Endpunkt Schmerzen im Punktschätzer eine Effektgröße von -0,03, was praktisch einem Nulleffekt entspricht.

Zehn Jahre später sieht die Situation nicht viel besser aus

Kürzlich erschien im British Medical Journal (BMJ) ein Update der Übersichtsarbeit. (4) In den 10 Jahren seit der ersten Publikation verdoppelte sich die Zahl der Studien von 89 auf 169 und die Zahl der randomisierten Patientinnen und Patienten von 12.667 auf 21.163.
Von einem Mangel an Daten kann man also wahrlich nicht sprechen – vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich hier um Studien mit Endpunkten handelt, die auf Symptomskalen gemessen werden und keine riesigen Fallzahlen benötigen, wie es etwa bei kardiologischen Studien mit binären Endpunkten und seltenen Ereignissen der Fall ist.
Wie bereits in der ersten Analyse zeigen sich auch im 2022 veröffentlichten Update Hinweise auf einen Publikationsbias und jede Menge unveröffentlichter Studienergebnisse. (4)
Diesmal konnte die Autorengruppe trotz Bemühungen allerdings nicht alle Daten beschaffen. So blieben die Ergebnisse von 12 Studien mit über 3.000 randomisierten Patientinnen und Patienten letztlich unberücksichtigt. Eine separate Auswertung der unveröffentlichten Studien, zu denen Daten zur Verfügung standen, zeigte auch in diesem Fall einen Nulleffekt. Die Effektgröße für den Endpunkt Schmerz lag in diesem Studienpool bei -0,02 mit einem 95%-Konfidenzintervall von -0,17 bis 0,13 (n=2.840 Patientinnen und Patienten).

In der Analyse zeigte sich noch ein weiteres Problem: ein sogenannter Small Study Effekt. Hiervon spricht man, wenn Studien mit kleinen Teilnehmerzahlen im Vergleich zu größeren Studien häufiger positive (oder negative) Ergebnisse aufweisen. Die Gründe dafür können sehr unterschiedlich sein und umfassen einen möglichen Publikationsbias (größere Studien werden eher publiziert als kleinere), selektive Berichterstattung (kleinere Studien sind unvollständiger berichtet) und methodische Gründe (kleinere Studien haben häufiger methodische Schwächen und sind daher eher verzerrt).
Je nach Kontext können auch klinische Unterschiede einen Small Study Effekt erklären – etwa, wenn kleine Studien eher in spezialisierten Zentren durchgeführt werden und deshalb andere Ergebnisse zeigen (die sich dann nicht auf die Regelversorgung übertragen lassen).
In der Metaanalyse zum Effekt von Hyaluronsäure-Injektionen war für den Endpunkt Schmerzen ein bemerkenswert ausgeprägter Small Study Effekt sichtbar: 41 der 169 berücksichtigten Studien (25%) zeigten Effektstärken, die größer waren als der durchschnittliche Effekt einer Knie-Total-Endoprothese. (4)
Mit anderen Worten: Effektstärken, die unplausibel hoch sind. Hierbei handelte es sich vollständig um Studien mit weniger als 100 Teilnehmenden. Die größeren Studien, an denen im Mittel 377 Personen teilnahmen, zeigten hingegen sehr viel plausiblere Ergebnisse.
Um Verzerrungen aufgrund von Small Study Effekten zu vermeiden, beschränkte die Autorengruppe ihre Primäranalysen konsequenterweise auf Studien mit mehr als 100 Teilnehmenden und einer Placebo-Kontrolle (24 Studien, 8.997 Patientinnen und Patienten). In diesem Studienpool wiesen zudem alle seit 2012 durchgeführten Studien wenige methodische Mängel bzw. ein niedriges Verzerrungspotenzial auf (welches die Autorengruppe mit dem Cochrane Risk of Bias Tool 2.0 bewertete). (4)

Der Nutzen von Hyaluronsäure-Injektionen ist praktisch widerlegt

Schlussendlich zu beweisen, dass eine Intervention keinen Effekt hat, ist in der Wissenschaftstheorie, zumindest nach dem Falsifikationsprinzip, ausgeschlossen. Die Auswertung der klinischen Studien zu Hyaluronsäure-Injektionen im BMJ-Artikel kommt dem Nachweis eines Nulleffekts aber so nahe, wie es praktisch möglich ist.
Für den Endpunkt Schmerzen gemessen auf einer 100 mm-Visuellen-Analogskala lag der Gruppenunterschied zwischen Hyaluronsäure- und Placebo-Injektionen bei 2 mm zugunsten von Hyaluronsäure. Das 95%-Konfidenzintervall reichte von 0,05 bis 3,8 mm. (4)

Als für Patientinnen und Patienten spürbare (d.h. relevante) Effekte haben sich in der Arthrose-Forschung Veränderungen von mindestens 10 mm etabliert. (5) Die Ergebnisse waren aufgrund der sehr großen Patientenzahlen also statistisch signifikant, aber sehr weit weg von jeglicher klinischen Relevanz. Gleiches zeigte sich für den Endpunkt Kniefunktion, bei dem sich der Effekt ebenfalls im Irrelevanzbereich bewegt.
Die Ergebnisse einer Reihe a priori geplanter Subgruppenanalysen zu methodischen und klinischen Studiencharakteristika zeigen homogene und mit den Primäranalysen konsistente Effekte. Sie betrafen unter anderem die Zahl der Injektionen, die Molekülmasse und die Vernetzung der Hyaluronsäure. Die Schlussfolgerung der Arbeit ist klar: Hyaluronsäure-Injektionen helfen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht besser als Placebo-Injektionen. (4)

Zu schweren unerwünschten Ereignissen konnte die Autorengruppe Daten von 15 Studien auswerten (n=6.462). (4) Die Gesamtrate schwerer unerwünschter Ereignisse lag unter Hyaluronsäure bei 3,7% und unter Placebo bei 2,5%, was im 95%-Konfidenzintervall einer statistisch signifikanten Risikoerhöhung von 12 bis 98% entsprach. Die Autorengruppe differenzierte allerdings nicht zwischen allen Ereignissen und solchen, die wahrscheinlich kausal mit den Injektionen zusammenhingen. Vor dem Hintergrund der fehlenden Wirksamkeit erscheint jedoch jedes potenzielle Risiko eines schweren unerwünschten Ereignisses problematisch.

Inakzeptable Forschungspraktiken

In ihrem Update aus 2022 führte die Forschergruppe ergänzend eine kumulative Metaanalyse durch, die sichtbar macht, wie sich die Effekte und ihre statistische Sicherheit über die letzten 40 Jahre mit jeder neuen Studie verändert haben.
Diese Analyse zeigt, dass spätestens 2012 ausreichend Patientinnen und Patienten randomisiert worden waren, um einen klinisch relevanten Effekt von Hyaluronsäure-Injektionen auf Schmerzen auszuschließen. (4) Trotzdem wurden seitdem unzählige weitere Studien durchgeführt und viele Tausend Patientinnen und Patienten zu Hyaluronsäure randomisiert. Für solche Situationen hat sich in den letzten 15 Jahren ein Begriff etabliert: "research waste". (6)
Es erscheint unwahrscheinlich, dass weitere Studien neue Erkenntnisse bringen. Bevor neue Studien zu Hyaluronsäure-Injektionen geplant werden, braucht es einen sehr sorgfältigen und unabhängigen Diskurs darüber, ob es klinische Konstellationen gibt, in denen dies tatsächlich noch sinnvoll wäre.

Wie sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Patientinnen und Patienten durch Verzerrungen in der Literatur in die Irre geführt werden, zeigt sich auch an dem Schönreden oder Spin in einem Großteil der Forschungsliteratur. Schaut man sich zum Beispiel die Publikation einer der größten (n=692) und aktuellsten Studien aus der BMJ-Metaanalyse an, wird dies bereits in der Zusammenfassung deutlich. (7) Dort schlussfolgern die Autorinnen und Autoren der Studie, dass die darin untersuchte Hyaluronsäure-Injektion zu schnellen, nachhaltigen und klinisch relevanten Reduktionen von Knieschmerzen und Funktionseinschränkungen führe und diese Effekte über einen Zeitraum von 24 Wochen anhalten würden.

Tatsächlich zeigten sich auch in dieser Studie nur klinisch irrelevante Unterschiede. Für Schmerzen lagen sie gemessen auf einer 100 mm-Schmerzskala zu 5 Messzeitpunkten im Bereich von 3,4 bis 5,8 mm. Auch in methodisch gut gemachten Studien kommt es leider vor, dass enttäuschende Ergebnisse beschönigt werden und die Leserschaft damit hinters Licht geführt wird.
Während der Erfolg von Hyaluronsäure-Injektionen als IGeL ungebrochen scheint, sieht es bei der Versorgung mit etablierten Therapien lückenhaft aus. So zeigen mehrere Erhebungen aus der deutschen Versorgungsforschung, dass weniger als die Hälfte aller Patientinnen und Patienten in den 12 Monaten vor einer Knie-TEP eine Physiotherapie erhalten. (8,9)

ROLAND BRIAN BÜCHTER
Institut für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM), Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke

PROF. DR. RER. MEDIC. DAWID PIEPER
Leiter des Zentrums für Versorgungsforschung, Medizinische Hochschule Brandenburg (Theodor Fontane), und des Instituts für Versorgungs- und Gesundheitssystemforschung, Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg, Medizinische Hochschule Brandenburg (Theodor Fontane)

Literatur:

1. Jacobs, H., Hoffmann, F., Callhoff, J. et al. Inanspruchnahme von individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) bei Arthrose in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 62, 1013–1019 (2019).

2. aserto/Medizinischer Dienst Bund (MDS). IGeL-Report 2023 – Ergebnisse der Versichertenbefragung. ULR: https://www.igel-monitor.de/fileadmin/Downloads/Presse/IGeL-Report2023Evaluationsbericht.pdf

3. Rutjes AW, Jüni P, da Costa BR, Trelle S, Nüesch E, Reichenbach S. Viscosupplementation for osteoarthritis of the knee: a systematic review and meta-analysis. Ann Intern Med. 2012;157(3):180-191.

4. Pereira TV, Jüni P, Saadat P, Xing D, Yao L, Bobos P, Agarwal A, Hincapié CA, da Costa BR. Viscosupplementation for knee osteoarthritis: systematic review and meta-analysis. BMJ. 2022;378:e069722.

5. Reginster JY, Reiter-Niesert S, Bruyère O, et al. Recommendations for an update of the 2010 European regulatory guideline on clinical investigation of medicinal products used in the treatment of osteoarthritis and reflections about related clinically relevant outcomes: expert consensus statement. Osteoarthritis Cartilage. 2015;23(12):2086-2093.

6. Chalmers I, Glasziou P. Avoidable waste in the production and reporting of research evidence. Lancet. 2009;374(9683):86-89.

7. Migliore A, Blicharski T, Plebanski R et al. Knee Osteoarthritis Pain Management with an Innovative High and Low Molecular Weight Hyaluronic Acid Formulation (HA-HL): A Randomized Clinical Trial. Rheumatol Ther. 2021;8(4):1617-1636.

8. Lange T, Luque Ramos A, Albrecht K, et al. Verordnungshäufigkeit physikalischer Therapien und Analgetika vor dem Einsatz einer Hüft- bzw. Kniegelenks-Endoprothese: Eine versorgungsepidemiologische Analyse basierend auf GKV-Routinedaten aus Deutschland. Orthopäde. 2018;47(12):1018-1026.

9. Jacobs H, Hoffmann F, Lazovic D, Maus U, Seeber GH. Use of Physiotherapy Prior to Total Knee Arthroplasty - Results of the Prospective FInGK Study. Healthcare. 2022;10(2):407.