Blankoverordnungen: Meilen- oder Stolperstein?
von Dr. Thomas Stolz
Ärzte und Psychotherapeuten geben bei der Blanko-Verordnung erstmals Entscheidungsbefugnisse an Fachkräfte ab. Doch die Regelungen sind nicht in allen Bereichen so konsequent, wie man es erwarten würde.
Erste Schritte in Richtung Blankoverordnung wurden mit der 2021 geschaffenen Verordnungsmöglichkeit von Hilfsmitteln durch den Pflegedienst unternommen.
Ein weiterer Schritt wurde jetzt mit der Einführung der Blankoverordnung für Ergotherapie gesetzt. Im Gegensatz zur herkömmlichen Praxis legen bei allen Blankoverordnungen nicht die Verordnenden, sondern die beauftragten Fachkräfte die Details fest.
Die Verordnenden bestätigen lediglich das Vorliegen einer Diagnose und die daraus resultierende Indikation für eine bestimmte übergeordnete Leistung, wie zum Beispiel Ergotherapie.
Die Fachkräfte entscheiden dann eigenständig abhängig von der jeweiligen Verordnung über die spezifische Therapie oder deren Frequenz und Dauer oder über alle drei. Die Gültigkeitsdauer einer Blankoverordnung ist verordnungsabhängig unterschiedlich beschränkt.
Die Einführung der Blankoverordnung für Ergotherapie am 1. April 2024 markierte den ersten historischen Meilenstein in der Heilmittel-Verordnungsgeschichte, nach langen Verhandlungen im Gemeinsamen Bundesausschuss.
Ab dem 1. Juli 2024 wird es auch für die Häusliche Krankenpflege ein Blankoverfahren geben, weitere Therapieformen wie Physiotherapie und Logopädie sollen folgen.
Diese Entwicklung hat erhebliche rechtliche, wirtschaftliche und therapeutische Konsequenzen. Blankoverordnungen von Ergotherapie zum Beispiel unterliegen nicht den üblichen Wirtschaftlichkeitsprüfungen; die wirtschaftliche Verantwortung hinsichtlich Auswahl und Umfang der ergotherapeutischen Maßnahmen liegt nun bei den behandelnden Heilmittelerbringern. Behandlungsfehler innerhalb der verordneten Heilmittelgruppe sind damit nicht mehr dem Verordnenden zuzuschreiben, sondern dieser haftet nur noch für Konsequenzen von falsch gestellten Diagnosen oder Indikationen.
Anders verhält es sich bei den ab dem 1. Juli 2024 möglichen Blankoverordnung von häuslicher Krankenpflege: Hier behält die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Verantwortung für die Verordnung der Leistung - die Pflegefachkräfte entscheiden nur über deren Frequenz und Dauer.
Vermutlich wird es in allen Fällen ökonomisch sinnvoll sein, Blankoverordnungen auszustellen und sich auf die Fachkompetenz der Fachkräfte zu verlassen. Doch bleibt Verordnenden immer die Möglichkeit, aus medizinischen Gründen vom Regelfall der Blankoverordnung abzuweichen und die vollständige Therapieplanung selbst in die Hand zu nehmen. In diesem Fall tragen sie jedoch weiterhin die wirtschaftliche Verantwortung für die Behandlung.
Nachfolgend wird auf die derzeit zwei unterschiedlich gestalteten Blankoverordnungen ausführlich eingegangen.
BLANKOVERORDNUNGEN VON ERGOTHERAPIE
Seit dem 1. April 2024 ist im Bereich der Heilmittel zunächst die Blankoverordnung von Ergotherapie möglich. Dabei beschränkt sich die Blankoverordnungsfähigkeit zunächst auf drei Diagnosegruppen.
Dass Psychotherapeuten nicht bei allen Diagnosen Ergotherapie verordnen dürfen, gilt auch für die Blankoverordnung:
Blankoverordnung nur durch Ärzte
Diagnosegruppe SB1: (Erkrankungen der Wirbelsäule, Gelenke und Extremitäten mit motorisch-funktionellen Schädigungen)
entzündlich-rheumatische Erkrankungen, z. B. reaktive Arthritis, Arthritis psoriatica, Rheumatoide Arthritis, Arthritis bei Kollagenosen
traumatische Gelenkerkrankungen und Operationsfolgen
Endoprothesenimplantation
Schultersteife
Blankoverordnung durch Ärzte und Psychotherapeuten
Diagnosegruppe PS3: (Wahnhafte und affektive Störungen / Abhängigkeitserkrankungen)
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
Affektive Störungen, z. B. depressive Störungen
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen, z. B. Abhängigkeitssyndrom
Diagnosegruppe PS4: (Dementielle Syndrome)
Morbus Alzheimer, z. B. im Stadium der leichten Demenz (Clinical Dementia Rating [CDR] 0,5 und 1,0)
Hält der Arzt bzw. Psychotherapeut die Ergotherapie bei diesen Indikationen für erforderlich, stellt er im Regelfall eine Blankoverordnung aus. Dennoch kann der Arzt oder Psychotherapeut in medizinisch begründeten Fällen von einer Blankoverordnung absehen und eine herkömmliche Verordnung ausstellen. In solchen Fällen wird wie üblich verordnet, wobei der Arzt oder Psychotherapeut das Heilmittel auswählt und die Menge sowie Häufigkeit der Behandlung bestimmt. Die wirtschaftliche und haftungsrechtliche Verantwortung bleibt dann uneingeschränkt beim Verordnenden bestehen.
Es empfiehlt sich, die medizinische Begründung in der Patientenakte zu vermerken.
Im Entlassmanagement ist die Blankoverordnung nicht möglich.
Praktische Umsetzung
Das Muster 13 bleibt unverändert.
Die Praxissoftware überprüft automatisch, ob eine Blankoverordnung basierend auf der eingegebenen Diagnosegruppe möglich ist und fordert den Arzt oder Psychotherapeuten explizit zur Entscheidung auf, ob eine Blankoverordnung ausgestellt werden soll.
Wenn dabei die Option Blankoverordnung ausgewählt wird, sind vom Verordnenden lediglich die entsprechende Diagnose sowie die passende Diagnosegruppe und die Leitsymptomatik anzugeben.
Anschließend kennzeichnet die Praxis-Software automatisch die Verordnung deutlich als "BLANKOVERORDNUNG" im entsprechenden Feld des Muster 13 (siehe Abbildung unten).
Zu guter Letzt muss der Verordnende über die Dringlichkeit, die Notwendigkeit eines Hausbesuchs entscheiden sowie darüber, ob ein Therapiebericht vom Therapeuten erstellt werden soll.
Bei einer Blankoverordnung verzichten Ärzte und Psychotherapeuten auf folgende Angaben:
Heilmittel gemäß Heilmittelkatalog
ergänzende Angaben zum Heilmittel (z. B. „Doppelbehandlung“)
Anzahl der Behandlungseinheiten
Therapiefrequenz
Diese werden durch die Ergotherapeuten bestimmt.
Die Ergotherapie-Verbände BED und DVE sowie der GKV-Spitzenverband haben sich zur Vermeidung einer übermäßigen Mengenausweitung auf ein Ampelsystem mit flexiblen Zeitintervallen für die verschiedenen Diagnosegruppen geeinigt.
Therapeuten können Mengen individuell je nach Phase (grün, gelb, rot) abgeben.
In der grünen Phase wird eine angemessene Menge an Zeitintervallen verwendet, die die Therapieziele in der Regel erreichen können, weshalb keine steuernden Maßnahmen erforderlich sind.
In der gelben Phase kann die Behandlungsmenge je nach individuellem Bedarf eigenverantwortlich angepasst werden, mit möglicher Information durch die Krankenkasse an den Therapeuten.
In der roten Phase wird angenommen, dass eine intensivere Behandlung notwendig ist, um die Therapieziele zu erreichen. Hier kann die Behandlungsmenge ebenfalls eigenverantwortlich angepasst werden, allerdings erfolgt ein Vergütungsabschlag von neun Prozent.
Gültigkeitsdauer
Die Blankoverordnung ist maximal 16 Wochen gültig. Die Gültigkeit beginnt ab dem Verordnungsdatum.
Damit ist sichergestellt, dass in vertretbaren Abständen über die Notwendigkeit der Fortführung oder Anpassung der Behandlung ärztlich/psychotherapeutisch entschieden wird.
Eine Unterbrechung innerhalb der 16-Wochen-Frist führt nicht zu einer Verlängerung der Gültigkeit.
Innerhalb von 16 Wochen ab Verordnungsdatum einer Blankoverordnung entscheidet die Ergotherapeutin oder der Ergotherapeut über die ergotherapeutische Behandlung, deren Menge und Häufigkeit.
Anschließend entscheidet der Arzt oder Psychotherapeut über eine gegebenenfalls notwendige Fortführung der Behandlung und stellt in medizinisch begründeten Fällen (in der Akte zu dokumentieren) eine weitere Verordnung aus.
Es ist möglich, innerhalb der 16-wöchigen Gültigkeit der Blankoverordnung eine weitere Blankoverordnung auszustellen, wenn es sich um eine andere Diagnose (ICD-10-zweistellig, z.B. M0, M1) und/oder andere Diagnosegruppe handelt (siehe Abbildung).
Allerdings dürfen im Zeitraum der Gültigkeit der Blankoverordnung keine weiteren Verordnungen auf Grund derselben Diagnose (ICD-10-zweistellig z. B. F0, F0) und derselben Diagnosegruppe je Versicherten ausgestellt werden (siehe Abbildung).
Therapiebericht durch Therapeut weiterhin auf Anforderung des Verordners
Wenn die Verordnung als Blankoverordnung ausgestellt wird, gelten neue Anforderungen an den Inhalt eines Therapieberichtes. Ein Therapiebericht erfolgt weiterhin nur auf Anforderung über die Verordnung. Der Therapiebericht enthält dabei mindestens folgende Informationen:
geplantes Therapieziel
Darstellung der erzielten Behandlungsergebnisse
angewendete Heilmittel und Anzahl der Behandlungstermine
Angabe der erbrachten Zeitintervalle pro Blankoverordnung
Angabe der Frequenz
Es empfiehlt sich grundsätzlich, einen Therapiebericht anzufordern, um ein Feedback über die Behandlungsart und den Behandlungsverlauf zu erhalten.
BLANKOVERORDNUNG VON HÄUSLICHER KRANKENPFLEGE
Am 1. Juli 2024 tritt außerdem die durch den G-BA beschlossene erweiterte Versorgungsverantwortung für Pflegefachkräfte in der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie (HKP-Richtlinie) in Kraft.
Im Rahmen der erweiterten Versorgungsverantwortung für Pflegefachkräfte gemäß der "HKP-Blankoverordnung" werden bestimmte Leistungen definiert, bei denen qualifizierte Pflegefachkräfte eigenständig die Häufigkeit und Dauer festlegen können.
Hier unterscheidet sich diese Blankoverordnungsform von der Blankoverordnung von Heilmitteln, die auch die inhaltliche Wahl der Therapieform durch den Therapeuten umfasst.
Den examinierten Pflegekräften hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht die erweiterten Kompetenzen gewährt, die den Ergotherapeuten zuerkannt wurden.
Es besteht auch keine Möglichkeit für die Verordnenden, einem Pflegedienst, den sie für geeignet halten, diese Kompetenzen zuzusprechen.
Somit obliegt die Entscheidung und Verantwortung über die Verordnung der Leistung weiterhin allein der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt.
Die Pflegefachkräfte treffen lediglich die Entscheidung darüber, wie oft und wie lange die entsprechenden Maßnahmen der HKP benötigt werden. Damit dürfte der Begriff „Blankoverordnung“ im Bereich der HKP eher euphemistischer Natur sein.
Praktische Umsetzung
Zur praktischen Umsetzung dieser Richtlinie wurde das Formular Muster 12 aktualisiert.
Darin wurde eine Spalte "Häufigkeit / Dauer von Pflegefachkraft" hinzugefügt, um kenntlich zu machen, welche Entscheidungen an die Pflegefachkräfte übertragen werden (siehe markiertes Feld auf der Abbildung unten).
Die Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Häufigkeit und Dauer der Maßnahmen im HKP-Leistungsverzeichnis gelten entsprechend auch für die Bestimmung durch qualifizierte Pflegefachkräfte. Falls jedoch medizinische Gründe gegen eine Bestimmung durch die Pflegefachkräfte sprechen, gibt die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Häufigkeit und Dauer selbst auf der Verordnung an.
Leistungen der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege gemäß § 4 der HKP-Richtlinie werden ebenfalls auf dem Muster 12 verordnet.
Gültigkeitsdauer
Spätestens drei Monate nach einer HKP-Blankoverordnung soll ein persönlicher Arzt-Patientenkontakt erfolgen, anhand dessen über eine Weiterverordnung entschieden werden kann.
Therapiebericht
Anders als für den Therapeuten bei der Blankoverordnung zur Ergotherapie gibt es für die Pflegefachkraft zwar keine Pflicht zu einem schriftlichen Behandlungsbericht. Jedoch besteht eine unmittelbare kurzfristige Informationspflicht über die Dauer und Behandlungsfrequenz und deren Änderungen.
Im Zusammenhang mit der Verordnung häuslicher Krankenpflege soll an dieser Stelle kurz die bereits 2022 eingeführte Möglichkeit der Verordnung von Hilfsmitteln durch Pflegefachkräfte rekapituliert werden:
EMPFEHLUNGEN VON HILFSMITTELN UND PFLEGEHILFEN DURCH PFLEGEFACHKRÄFTE GEMÄSS § 40 Abs.6 SGB XI
Gemäß Änderungen des SGB XI dürfen Pflegefachkräfte seit Anfang 2022 bestimmte Hilfs- und Pflegehilfsmittel für Pflegebedürftige empfehlen, die diese eigenständig bei ihrer Krankenkasse beantragen können, ohne eine ärztliche Verordnung einzuholen.
Diese Empfehlungen gelten für Pflegebedürftige, die von den Pflegefachkräften betreut werden und die Hilfsmittel im häuslichen Umfeld benötigen. Die Verantwortung für die Versorgung mit Hilfs- und Pflegehilfsmitteln in vollstationären Pflegeeinrichtungen liegt weiterhin bei der Einrichtung selbst.
Die Pflegefachkräfte müssen bestimmte fachliche Anforderungen erfüllen, wie sie im Rahmen der vom GKV-Spitzenverband beschlossenen Richtlinie festgelegt sind. www.gkv-spitzenverband.de
Die empfohlenen Hilfs- und Pflegehilfsmittel müssen dazu beitragen, die Pflege zu erleichtern, Beschwerden zu lindern oder dem Pflegebedürftigen eine selbstständigere Lebensführung zu ermöglichen. Eine Liste der zu empfehlenden Hilfsmittel ist als Anhang 2 in den Richtlinien enthalten, welche von Duschhilfen bis zu Pflegebetten reichen.
Um die Leistung zu empfehlen, nutzen Pflegefachkräfte ein spezielles Formular, das vom Versicherten an einen Hilfsmittel-Leistungserbringer weitergeleitet wird. Dieser stellt dann auf Basis dieser Empfehlung einen Leistungsantrag bei der Kranken- oder Pflegekasse.
Bei der Entscheidung über eine Empfehlung müssen Pflegefachkräfte das Wirtschaft-lichkeitsgebot beachten, und die Krankenkassen prüfen die Wirtschaftlichkeit der empfohlenen Hilfsmittelversorgung.
Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, können sich Pflegebedürftige ohne ärztliche Verordnung bei einem Hilfsmittelerbringer ihrer Wahl mit dem empfohlenen Produkt versorgen lassen.
ZUSAMMENFASSUNG UND RESÜMEE
Laut der seit Anfang 2022 geltenden Richtlinie zur Empfehlung von Hilfsmitteln und Pflegehilfen durch Pflegefachkräfte dürfen die Pflegenden eine Vielzahl zur Pflege notwendiger Hilfsmittel ohne Einbeziehung und jegliche Verordnung durch Ärzte direkt beantragen.
Die seit April 2024 geltende Blankoverordnung von Ergotherapie gilt für bis zu drei Indikationen, in denen die Verordnenden die Verordnung blanko ausstellen können und die Ergotherapeuten selber über Therapieform, -dauer und -frequenz bestimmen.
In der ab Juli 2024 vorgesehenen Blankoverordnung zur Häuslichen Krankenpflege dürfen die Pflegefachkräfte lediglich über Frequenz und Dauer der zu verordnenden Leistung entscheiden.
Mögliche praktische Probleme, wenn z.B. der Ergotherapeut in der Rotphase seiner Ampelvereinbarung (s.o.) oder der Pflegedienst z.B. wegen Personalmangel seine Behandlung einstellt oder reduziert, aber ärztlicherseits oder aus Patientensicht weiterer Bedarf besteht, bleiben dem Praxisalltag vorbehalten und sind zunächst ungeklärt.
Die "Blankoverordnung" zur HKP ist also nicht so ganz blanko, wie man es erwarten würde. Zudem beschreitet der G-BA ganz unterschiedliche Wege, wenn es darum geht, zu entscheiden, wie viel blanko tatsächlich verordnet werden darf.
Es bleibt abzuwarten, ob diese etwas verwirrende Vielfalt an Regelungen wirklich dazu beiträgt, den Praxisalltag zu vereinfachen und die Bürokratie zu reduzieren. Man darf gespannt sein, wie kreativ die Regelungen zukünftiger "Blankoverordnungen" gestaltet sind.
DR. THOMAS STOLZ
beratender Arzt der KV Hamburg
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