Inflation – bedroht die Gesundheitsversorgung
Kolumne
von Dr. Mathias Soyka, Orthopäde in Hamburg-Bergedorf
Die Inflation ist zurück. Mit 5,8 Prozent erreichte sie einen im wiedervereinigten Deutschland bisher nicht erreichten Höhepunkt, kletterte auf über 7 Prozent und wird bald zweistellig sein. Die Gründe für das Comeback der Geldentwertung sind vielfältig: Ganz vorne die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und das faktische Ende der Schuldenbremse in der Coronapandemie. Geld wurde mit der Gießkanne verteilt, für Sinnvolles ebenso wie für puren Nonsens.
Inflation ist daher kein drohendes Gespenst mehr, sondern die neue Realität.
Zu den besonders betroffenen Gruppen gehören die Ärzte und Psychotherapeuten. Und deren Betroffenheit hat direkte Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung.
Ein wichtiger Grund für diese Vulnerabilität ist die verzögerte Auszahlung der kassenärztlichen Honorare. Weil Psychotherapeuten und Ärzte ein Großteil ihres Honorars erst ein halbes Jahr nach dem Ende des Quartals auf dem Konto haben, sind sie den Folgen der Inflation stärker ausgesetzt als Berufsgruppen, die ihr Geld sofort nach Ablieferung ihrer Leistung erhalten. Solange die Inflationsrate einstellig ist, mag dieser Effekt klein sein. Aber bei zweistelligen Inflationsraten bedeutet die Verzögerung von einem halben Jahr, dass das Honorar sich schon um mindestens 5 Prozent gegenüber dem Zeitpunkt der Leistungserbringung entwertet hat.
Noch viel stärker ins Gewicht fällt allerdings, dass ärztliche und psychotherapeutische Honorare seit Jahrzehnten keinen angemessenen Inflationsausgleich erfahren haben. Bei der Recherche für mein Buch „Wahnsinn Wartezeit“ habe ich dazu überraschende Ergebnisse gefunden. Danach stagnierten die Honorarumsätze aller Praxen in der Zeit von 2000 bis 2015. Für einige Fachgruppen gab es innerhalb dieser Zeitspanne sogar eine nominale Absenkung der Honorare. Sie mussten in dieser Zeit zusätzlich zum fehlenden Inflationsausgleich Honorarminderungen hinnehmen.
In den letzten Jahren sind die Honorare zwar etwas gestiegen, allerdings nicht aufgrund eines gewährten Inflationsausgleiches, sondern wegen der Ausweitung der Leistungen im Zusammenhang mit dem Termin-Service-Gesetz und der Impf-Kampagne.
Ärzte können ihr Honorar nicht frei aushandeln, sondern sind abhängig von einer Gebührenordnung und damit von politischen Entscheidungen. Und wie es aussieht, ist die Politik nicht bereit, den Ärzten einen Ausgleich für die Entwertung des Geldes zu zahlen. Das merkt man am kassenärztlichen EBM ebenso wie an der privaten Gebührenordnung GOÄ.
Die Preise der GOÄ stammen von 1988 und wurden nur ein einziges Mal, nämlich 1996, mit einem kleinen Inflationsausgleich von 3,6 Prozent aufgestockt. Somit bilden die Gebührenziffern der privaten Gebühren Ordnung immer noch die Preise von 1996 ab.
Spätestens dieses Beispiel zeigt, dass die Verweigerung eines Inflationsausgleichs kein Zufall und kein Versehen ist. Offensichtlich ist man in der Politik der Meinung, dass die ärztlichen Honorare sowieso zu hoch sind, und freut sich über die Möglichkeit, sie durch den „natürlichen Inflationsverlauf“ absenken zu können.
Bei anderen Akteuren des Gesundheitswesens sieht es anders aus. Für die Kliniken hat die Politik immer ein offenes Ohr, und die Sozialfachangestellten der Kassen müssen sowieso nicht darben. Interessant wurde es in diesem Jahr bei den Taxifahrern und Krankentransportunternehmen, die unter den hohen Spritpreisen besonders leiden. Sie drohten, ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können.
Die Frage war, ob die Kassen und die Politik einlenken würden? Ich war selbst sehr überrascht, wie einfach und unproblematisch das funktionierte. Schon kurz nach der Drohung, die Transporte einzustellen, erklärte eine Sprecherin der AOK Sachsen-Anhalt: „Ab Mittwoch können unsere Vertragspartner für Krankenfahrten neun Cent pro Besetzt-Kilometer für die Hin- und Rückfahrt oder 16 Cent pro Besetzt-Kilometer bei einfachen Fahrten mit uns abrechnen“ „Es ist eine sofort wirksame und unbürokratische Lösung – ein Antrag ist nicht notwendig.“
Die Barmer zog sofort nach und erklärte: „Wir erkennen den akuten Handlungsbedarf infolge der kurzfristig stark angestiegenen Treibstoffkosten an.“
Ärzte und Psychotherapeuten können von so viel unbürokratischer Hilfe nur träumen. Sie bleiben der Inflation ausgeliefert.
Durch den fehlenden Inflationsausgleich schlagen die im Laufe der Jahre steigenden Kosten voll durch, was nur wenige Bürger wissen. Wenn man seinem Anwalt bei Verhandlungen über einen neuen Mietvertrag erklärt, dass man eine an die Inflationsrate gekoppelte Staffelmiete auf keinen Fall akzeptieren will (was man unbedingt tun sollte!), kann es einem passieren, dass er das etwas übertrieben findet und sagt: „Aber bei höherer Inflation steigen doch auch Ihre Einnahmen.“
Ja, das gilt für fast alle, bloß eben nicht für die Ärzte. Die Gebührenordnung der Anwälte zum Beispiel ist seit 1982 mehrfach angehoben worden, mit dem Steigen der Fallwerte gibt es sogar einen gewissen automatischen Inflationsausgleich. Der öffentliche Dienst würde sich ohne regelmäßigen Inflationsausgleich sowieso bedanken.
Noch besser haben es die Mitglieder des Deutschen Bundestages. Ihr Einkommen steigt automatisch mit den Durchschnittslöhnen: Von 6876 Euro im Jahre 2002 auf 10055, also um 68 Prozent. (Hinzu kommen noch verschiedene Pauschalen.)
Für die Praxen der Ärzte und Psychotherapeuten wird die stärkste Inflation seit Bestehen der BRD zu einer Existenzbedrohung und damit zu einer Gefährdung der ambulanten Gesundheitsversorgung. Viele Praxen werden durch den Inflationsdruck in akute finanzielle Schwierigkeiten kommen, wenn nicht rechtzeitig wie bei den Taxifahrern gegengesteuert wird. Vor allem aber dürfte die Suche nach Praxisnachfolgern noch schwieriger werden. Das wird den Ärztemangel und auch die Übernahme von Arztpraxen durch Krankenhäuser und Investmentgesellschaften rasant befördern.
Umgekehrt könnte die akute Bedrohung durch die Geldentwertung auch positive und gegenläufige Folgen bewirken. Jahrzehntelang haben Ärzte sich für Gegenmaßnahmen, und auch für die Mitarbeit in den Selbstverwaltungen, zu wenig interessiert. Es lief ja immerhin noch alles ganz gut. Das neue Inflationsszenario könnte möglicherweise auch hier eine kleine „Zeitenwende“ bewirken. Eine höhere Beteiligung bei den anstehenden Wahlen zur Selbstverwaltung könnte ein erstes Zeichen dafür setzen.
DR. MATTHIAS SOYKA ist Orthopäde und Buchautor.
Aktuell im Buchhandel: „Dein Rückenretter bist du selbst“, Ellert&Richter / Hamburg
www.dr-soyka.de
Youtube Kanal „Hilfe zur Selbsthilfe“
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Matthias Soyka, Dr. Bernd Hontschik und Dr. Christine Löber.