App und weg? Digitale Gesundheitsanwendungen im Spiegel der evidenzbasierten Medizin
Aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin
Von Prof. Dr. Katrin Balzer im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)
Seit 2020 können Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), umgangssprachlich auch als „Apps auf Rezept“ bezeichnet, in Anspruch nehmen. Eingeführt mit dem Digitale-Versorgung-Netz, sind aktuell (Stand 1. Februar 2025) 58 verordnungsfähige Anwendungen in dem DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) gelistet [1].
Weitere zehn Anwendungen waren vorübergehend gelistet, wurden jedoch nach nicht erfolgreicher Evaluation in der Erprobungsphase wieder aus dem Verzeichnis gestrichen. Von den 58 aktuell verordnungsfähigen DiGAs sind 39 dauerhaft in das Verzeichnis aufgenommen, die anderen 19 Anwendungen befinden sich noch in der Erprobungsphase (siehe Kasten). Bisher liegen somit für 57 % der insgesamt 68 ursprünglich gelisteten DiGAs Nachweise für einen sogenannten positiven Versorgungseffekt vor.
Anforderungen an den Nutzennachweis – Soll
Als positiver Versorgungseffekt und damit eine zentrale Voraussetzung für die dauerhafte Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis gelten eine Verbesserung in einem Parameter des medizinischen Nutzens im Sinne des Gesundheitszustands, der Krankheitsdauer, der Überlebenszeit oder der Lebensqualität oder eine sogenannte patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung. Letztere umfasst Zielgrößen unter anderem in den Bereichen Gesundheitskompetenz, Leitliniengerechtigkeit der Behandlung, Therapieadhärenz, therapiebedingter Patientenaufwand oder auch Patientensouveränität [2].
Die Effekte auf die obengenannten Endpunkte sind in einer Studie mit Kontrollgruppe im deutschen oder einem ausreichend vergleichbaren Versorgungskontext zu überprüfen [2]. Diese Kontrollgruppe kann keine Behandlung, eine Behandlung ohne DiGA-Zugang oder eine Behandlung mit einer vergleichbaren, bereits registrierten DiGA umfassen. Eine randomisiert-kontrollierte Zuordnung zu den Studiengruppen ist nicht verpflichtend, auch eine retrospektive Analyse mit historischer Kontrollgruppe gilt als ausreichend. Die Untersuchungspopulation soll repräsentativ für die adressierte Zielgruppe der DiGA sein; zudem sollten relevante Subgruppen wie z. B. verschiedene Altersgruppen oder Geschlechter mit ausreichendem Stichprobenumfang für explorative Subgruppenanalysen vertreten sein. Weiterhin ist eine Präspezifizierung des methodischen Vorgehens durch Eintrag in einem öffentlichen Studienregister, bevorzugt im Deutschen Register klinischer Studien (DRKS), verpflichtend [2]. Für die später beim BfARM vorzulegenden Studienberichte wird in dem Leitfaden das CONSORT Statement empfohlen, ebenso wird auf die vollständige Angabe der Effektschätzungen zu den vorab definierten Endpunkten, inklusive 95 %-Konfidenzintervalle, hingewiesen [2].
Anforderungen an den Nutzennachweis – Ist
Eine Analyse aller 35 bis Sommer 2024 dauerhaft registrierten DiGAs zeigt, dass jede dieser Anwendungen in mindestens einer randomisierte-kontrollierten Studie (RCT) evaluiert wurde, für eine Anwendung waren zwei RCT registriert [4]. Alle Studien sind in einem Studienregister, überwiegend dem DRKS, registriert. Allerdings konnten die Autoren dieser Analyse nur für drei Studien ein in einer Zeitschrift mit Peer Review publiziertes Studienprotokoll lokalisieren, und nur für zwei Studien waren entsprechend publizierte Studienberichte mit Ergebnissen identifizierbar.
In den Evaluationen der 35 analysierten dauerhaft registrierten DiGAs wurden sehr unterschiedliche Parameter für den Nachweis des medizinischen Nutzens verwendet [4]. Der Nutzennachweis erfolgte für alle 35 Apps jeweils anhand eines Parameters des medizinischen Nutzens, genauer anhand einer Verbesserung des Gesundheitszustands. Dieser wurde hauptsächlich über patientenberichtete Parameter wie Schmerzen, Symptomschwere oder Lebensqualität erfasst, aber auch der HbA1C-Wert wurde als primäre Zielgröße genutzt. Die Beobachtungsdauer in den Evaluationsstudien betrug überwiegend drei Monate oder länger und deckte somit die meist übliche Verordnungsdauer von 90 Tagen ab; es finden sich jedoch auch Evaluationen mit kürzerer Beobachtungsdauer, ohne dass explizit eine geplante kürzere Verordnungsdauer erkennbar ist [4].
Als Kontrollbedingung wurde in den Evaluationsstudien zu über 90 % eine Wartelisten-Gruppe oder die übliche Versorgung genutzt, nur in drei Studien wurde das Verzerrungsrisiko durch eine „Scheinintervention“ minimiert, indem die Teilnehmenden Zugang zu einer App mit eingeschränkter Funktionalität erhielten. Dies deckt sich mit Ergebnissen eines Health Technology Assessment (HTA) zur Wirksamkeit von Apps bei generalisierten Angststörungen [5]. In diesem Bericht wurde für alle eingeschlossenen 20 Studien aus unterschiedlichen Ländern endpunktübergreifend ein hohes Verzerrungspotenzial festgestellt, hauptsächlich wegen fehlender Verblindung in Verbindung mit der subjektiven Erfassung patientenberichteter Zielgrößen und häufiger Interessenkonflikte der Autorenteams. Daneben wird auf das zusätzliche Risiko einer Effektüberschätzung im Zusammenhang mit Wartekontrollgruppendesigns hingewiesen [5].
Nutzennachweis – Ergebnisse
Die Analyse von Goeldner & Gehder [4] gibt nur begrenzt Auskunft über die Ergebnisse der Evaluationen der 35 dauerhaft registrierten DiGAs. Demnach wurde für zwei Drittel der analysierten Apps der Nutzennachweis jeweils einzig für die primäre Zielgröße und nicht für weitere Zielgrößen erbracht; für einzelne Apps ist zusätzlich eine Verbesserung in anderen Parametern des Gesundheitszustands, in der Lebensqualität oder in patientenrelevanten Strukturen und Verfahren berichtet [4].
Laut dem letzten DiGA-Bericht des GKV-Spitzenverbandes wurde bisher nur circa die Hälfte der DiGAs, die nach einer Erprobungsphase dauerhaft in das Register aufgenommenen wurden, für das gesamte originär adressierte Indikations- oder Patientenspektrum zugelassen, da die Evaluation jeweils nicht alle vorab angenommenen Effekte bestätigen konnte [6].
Im obengenannten HTA-Bericht zu Apps bei generalisierten Angststörungen wurde für mehrere Vergleiche gegenüber Gruppen ohne zusätzliche Behandlung bzw. Wartelistengruppen ein Anhaltspunkt oder Hinweis auf einen Nutzen in Bezug auf die Angstsymptomatik oder die Remission festgestellt. Für mehrere Vergleiche von Apps (jeweils basierend auf kognitiver Verhaltenstherapie) versus eine Scheinintervention oder eine andere Ausgestaltung der App sind dagegen keine Anhaltspunkte oder Hinweise für einen höheren Nutzen oder Schaden berichtet [5].
Darüber hinaus wurden in keiner der eingeschlossenen Studien Effekte auf die Mortalität, die Rückfallrate oder die Selbstwirksamkeit untersucht. Adverse Ereignisse wurden in weniger als der Hälfte der Studien erfasst, weshalb in dem HTA-Bericht keine Aussagen zum Schadenspotenzial getroffen werden konnten [5]. Insgesamt bescheinigen die HTA-Autoren den digitalen Anwendungen ein gewisses Potenzial, generalisierte Angststörungen zu minimieren, jedoch mahnen sie mehr und robustere Erkenntnisse über langfristige Wirkungen, die Effekte auf die Lebensqualität und zum Schadensrisiko an. Zudem erachten sie einen direkten Vergleich gegenüber Therapieangeboten im direkten Kontakt („face to face“) als wichtig [5].
Aktuelle Versorgungssituation: Wenige Folgeverordnungen
Bis Ende September 2023 – aktuellere Daten liegen noch nicht vor – wurden knapp 400.000 DIGAs von GKV-versicherten Personen in Anspruch genommen. Die am häufigsten verordneten DiGAs umfassen Apps für Patientinnen und Patienten mit Adipositas, Rückenschmerzen oder Tinnitus [6]. Hausärztlicherseits werden vor allem DiGAs in den Indikationsgebieten Stoffwechselerkrankungen und psychische Erkrankungen verordnet. Über 80 % aller eingelösten Verordnungen stellen Erstverordnungen dar [6].
Eher selten kommt es demnach zu Folgeverordnungen. Korrespondierend dazu ist eine abnehmende Inanspruchnahmehäufigkeit pro DiGA über die Zeit seit ihrer Aufnahme in das Register zu beobachten [4]. Dies impliziert, dass ein relevanter Anteil der Verordnungen auf zunächst vorläufig registrierte DiGAs entfällt, für deren Nutzen (oder möglichen Schaden) noch keine belastbaren Daten vorliegen.
Seit Initiierung des DiGA-Registers wurden bis Ende September 2023 knapp 115 Millionen Euro aus GKV-Mitteln für die Refinanzierung von DiGA-Verordnungen aufgebracht, zuletzt (2022/2023) 67,5 Millionen Euro pro Jahr. Im Verhältnis zu den Gesamtausgaben der GKV im Jahr 2023 [7] entspricht dies einem Anteil von weniger als 0,5 %. Auch wenn sich dieser Anteil als geringfügig ausnimmt, verdient er kritischer Aufmerksamkeit. Mit einer weiter steigenden Zahl an zumindest vorläufig registrierten DiGAs ist zu rechnen. Analysen zeigen, dass der von den Herstellern für die einjährige – und auf Antrag auf zwei Jahre verlängerbare – Erprobungsphase zur Vergütung anerkannte Preis pro Verordnung kontinuierlich angestiegen ist: Im Jahr 2024 lag er im Median bei 547 Euro. Der vom GKV-Spitzenverband und den Herstellern, ggf. ersatzweise durch eine Schiedsstelle nach § 135 Absatz 3, festgelegte Vergütungspreis für dauerhaft in das Register aufgenommene DiGAs betrug dagegen im Median circa 220 Euro. Aus Sicht der GKV birgt die Erprobungsphase eine fragwürdige versteckte „Wirtschaftsförderung“ durch Mittel der Solidargemeinschaft, verbunden mit ungewissen gesundheitlichen Risiken für die Versicherten [6].
Abschließende Bemerkungen
Gemäß § 139e Absatz 9 Satz 2 SGB V ist der Nutzennachweis für DiGAs nach den Maßstäben der evidenzbasierten Medizin zu erbringen. Diese Maßstäbe werden mit den aktuellen Anforderungen an den Nutzennachweis nur eingeschränkt erfüllt. Zu prüfen ist die prognostische Validität der Bewertungsmaßstäbe für die vorläufige Aufnahme in das Verzeichnis.
Die methodischen Anforderungen an den Nachweis patientenrelevanter Versorgungseffekte in der Erprobungsphase sollten im Lichte der oben beschriebenen Limitationen des aktuellen Forschungsstands zu Nutzen und Schaden von DiGAs überprüft und nachgebessert werden. Parallele Kontrollgruppen mit randomisierter Zuordnung sollten verpflichtend sein und so gewählt werden, dass sie das Verzerrungsrisiko aufgrund fehlender Verblindung der Intervention minimieren und eine valide Bewertung des Effekts im Vergleich zum klinisch aktuell besten „standard of care“ ermöglichen.
Längerfristige Beobachtungsdauern und die Erfassung und Berichterstattung adverser Ereignisse sind unabdingbar. Weiterhin sind mehr Erkenntnisse über die tatsächliche Nutzung der DiGAs und die Gründe für die verhältnismäßig seltenen Folgeverordnungen relevant.
Nicht zuletzt ist das Informationsangebot zu DiGAs zu erweitern und laienverständlicher zu gestalten. Die im DiGA-Verzeichnis gegenwärtig angegebenen statistischen Informationen zu Effektschätzungen für den Nutzennachweis dürften für das Gros der Bürgerinnen und Bürger kaum nachvollziehbar sein und enthalten nicht konsistent Vertrauensintervalle. Die statistische Sicherheit der betreffenden Ergebnisse bleibt somit unklar. Die Maßstäbe für narrative Interpretationen von Effektstärken wie z. B. "sehr viel weniger" [8] sind ebenfalls nicht unmittelbar transparent. Alternative Informationsangebote, die den Kriterien evidenzbasierter Patienteninformation genügen, konnten nicht aufgefunden werden.
Vom 1. Januar 2026 an werden DiGA-Hersteller verpflichtet sein, im Rahmen einer „anwendungsbegleitenden Erfolgsmessung“ Daten zu Dauer und Häufigkeit der Nutzung von DiGAs, zur Patientenzufriedenheit und zur Veränderung der patientenberichteten Gesundheit während der Nutzung zu erfassen und an das BfArM zu übermitteln (§ 139e Absatz 13 SGB V). Diese Daten sollen dann zusammen mit den Ergebnissen zum Nutzennachweis in einen 20-prozentigen erfolgsabhängigen Anteil des Vergütungspreises einfließen. Die Effekte dieses Schritts bleiben abzuwarten; die oben beschriebenen Anforderungen an die Evaluationsmethodik und die Informationsbereitstellung ersetzt er nicht.
PROF. DR. RER. CUR. KATRIN BALZER
Leitung Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege
Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie
Universität zu Lübeck
katrin.balzer@uksh.de
Referenzen
[1] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. DiGA-Verzeichnis. https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis (04.02.2025).
[2] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Das Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V. Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender. Version 3.5 vom 28.12.2023, https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/diga_leitfaden.html?nn=597198 (03.02.2025).
[3] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Wissenswertes zu DiGA. https://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/Aufgaben/DiGA-und-DiPA/DiGA/Wissenswertes/_node.html (04.02.2025).
[4] GKV-Spitzenverband. Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Inanspruchnahme und Entwicklung der Versorgung mit Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA-Bericht) gemäß § 33a Absatz 6 SGB V. Berichtszeitraum: 01.09.2020–30.09.2023. https://www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/digitalisierung/kv_diga/diga.jsp (01.02.2025).
[5] Goeldner M, Gehder S. Digital Health Applications (DiGAs) on a Fast Track: Insights From a Data-Driven Analysis of Prescribable Digital Therapeutics in Germany From 2020 to Mid-2024. J Med Internet Res. 2024; 26:e59013. doi: 10.2196/59013.
[6] Stürzingler H, Druml M, Emprechtinger R et al. Generalisierte Angststörung: Helfen Apps Betroffenen bei der Bewältigung ihrer Erkrankung? HTA-Bericht im Auftrag des IQWiG. Version: 1.0. IQWiG-Berichte – Nr. 1851, 12.09.2024, doi: 10.60584/HT22-02.
[7] Statistisches Bundesamt (Destatis). Gesundheitsausgaben. Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/Tabellen/ausgabentraeger.html (03.02.2025).
[8] Meine Tinnitus App - Das digitale Tinnitus Counseling. In: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. DiGA-Verzeichnis. https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis/01496 (04.02.2025).