„Mehr Beteiligung und Transparenz“
Interview
Das neue Führungsduo an der Spitze der KV-Vertreterversammlung will die Selbstverwaltung auf eine breitere Basis stellen. Wie soll das gehen? Dr. Michael Reusch und Dr. Björn Parey über die politische Kultur im Gesundheitssystem und die Folgen der Honorarmisere.
Was muss sich Ihrer Ansicht nach ändern in der KV Hamburg?
reusch: Es gibt ein großes Bedürfnis, die Selbstverwaltung zu erneuern und weiterzuentwickeln. Der historische Kompromiss zwischen Vertragsärzteschaft und Gesellschaft lautet ja: Wir bekommen Zugang zu den gesetzlich Versicherten, verzichten auf das Streikrecht und erhalten die Möglichkeit, viele Rahmenbedingungen unserer Berufsausübung selbst zu gestalten. Als Vorsitzende der Vertreterversammlung wollen wir diese Spielräume so weit wie möglich ausreizen. Wir wollen die Selbstverwaltung auf eine breitere Basis stellen und die Einflussmöglichkeiten der Gremien erweitern.
Parey: Wir sind davon überzeugt, dass wir bessere Entscheidungen bekommen, wenn wir die Sachkompetenz der Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten stärker mit einbeziehen und deren Ideenreichtum besser nutzen. Und: Die Diskussions- und Entscheidungsprozesse in der KV müssen transparenter werden. Mangelnde Nachvollziehbarkeit sorgt für Misstrauen, Abwehrhaltung und Gegenwehr. Das wollen wir vermeiden.
Wie könnte eine breitere Beteiligung organisiert werden?
Reusch: Die Vertreterversammlung trifft die Entscheidungen – doch in den Sitzungen bleibt wenig Zeit für vertiefte Diskussionen. Dehalb müssen wir Gesprächsräume schaffen, in denen es umfassend Gelegenheit gibt, die Entscheidungen vorzubereiten. Für die erste breite Diskussion eines bestimmten Themas könnte man ein spezielles Format einführen: Erst gibt es ein kurzes Impulsreferat – dann tauschen sich die Mitglieder intensiv miteinander aus und starten einen Meinungsbildungsprozess.
Parey: Um in die Tiefe zu gehen, werden weiterhin kleinere Ausschüsse und Fachgremien benötigt – beispielsweise, um Lösungen für die Honorarverteilung oder den Notdienst zu erarbeiten.
Reusch: Und wir sollten längerfristig denken und Ideen dazu entwickeln, wie die Versorgung angesichts des dramatischen demographischen Wandels in Zukunft gestaltet werden kann. Deshalb schlage ich vor, einen Zukunfts- oder Strategieausschuss einzusetzen. Für diese Arbeit brauchen wir allerdings eine belastbare Datengrundlage. Deshalb sollte in der KV ein Arbeitsbereich für Versorgungsforschung etabliert werden. Ich halte es für wichtig, nicht nur auf die Vorstellungen der Politik zu reagieren, sondern selbst konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Wir sind es, die wissen, wie Versorgung geht.
In der konstituierenden Sitzung der Vertreterversammlung wurde der KV-Vorstand aufgefordert, einen Plan zur Kosteneinsparung für den Notdienst zu erarbeiten. Was hat es damit auf sich?
Parey: Wir haben die Anzahl der Notfallpraxen in den vergangenen Jahren von zwei auf acht ausgeweitet. Den Großteil der Kosten tragen wir selbst, deshalb stieg der entsprechende Verwaltungskostensatz von 0,65 Prozent auf 0,95 Prozent. Doch nun sorgt die Rücknahme der Neupatientenregelung für deutliche finanzielle Einbußen in den Praxen, gleichzeitig erleben wir eine beispiellose Kostenexplosion. Es ist völlig klar, dass wir den Notdienst in dieser Form nicht weiter finanzieren können. Darüber müssen wir mit den Krankenkassen und auch mit der Stadt sprechen.
Reusch: Die Hamburger KV-Mitglieder haben ja ohnehin eine sehr niedrige Honorar-Auszahlungsquote im Vergleich zu anderen KV-Regionen, die teilweise Auszahlungsquoten von 100 Prozent haben. Deshalb wurden die Hamburger Praxen von der Rücknahme der Neupatientenregelung ganz besonders getroffen. Und deshalb ist die vollständige Entbudgetierung unsere zentrale Forderung: Was wir leisten, muss voll vergütet werden.
Nun hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach eine Entbudgetierung des kinderärztlichen und hausärztlichen Bereichs angekündigt …
Reusch: Ja, das wäre ein großer Schritt nach vorne. Wir freuen uns über jede Gruppe, die wir aus der Budgetierung herausbekommen. Gute medizinische Versorgung ist ein elementarer Teil von Daseinsvorsorge. Unser vertragsärztliches und -psychotherapeutisches System ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die wir nur durch eine sachgerechte Finanzierung erhalten und weiterentwickeln können. Die Politik darf die Ethik der Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nicht als Kostenspar-Faktor einkalkulieren. Dagegen müssen wir uns massiv wehren. Und wir müssen über die spezielle Versorgung in einer großen Stadt wie Hamburg sprechen, wo es ganz eigene Lebenswirklichkeiten und Versorgungsbedarfe gibt – Stichwort Stadtgesundheit. Neben der deutlichen Zunahme der über 60-Jährigen sehen wir in Hamburg – anders als in vielen Regionen – einen Zuzug, auch von jüngeren Leuten. Dieser spezifischen Entwicklung muss die Bedarfsplanung Rechnung tragen.
Parey: Ja, das Phänomen Stadtstaat ist besonders. Wir haben hier eine deutlich höhere Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen – aber eben auch viele soziale Probleme. Gerade in den sozial schwächeren Stadtteilen sind wir oftmals mit Fragen konfrontiert, die mit Medizin nur indirekt zu tun haben. Da geht es um Alltagssorgen und soziale Probleme, die sich dann allerdings auch in körperlichen Beschwerden wie Hochdruck oder Rückenschmerzen manifestieren. Derzeit leisten wir in den Hausarztpraxen viel Sozialarbeit. Wir würden uns wünschen, dass diese Tätigkeiten wieder stärker von extra dafür ausgebildeten Kräften übernommen werden. Der Hamburger Hausärzteverband hat vorgeschlagen, dass Sozialarbeiter in die Arztpraxen kommen und die Patientinnen und Patienten beraten.
Wie könnte das konkret aussehen?
parey: Naja, die Menschen kommen ja sowieso in die Arztpraxis. Und wenn es Bedarf gibt, bietet man ein oder zweimal pro Woche eine Sozialarbeiter-Sprechstunde in der Praxis an. Der Arzt schickt den Patienten direkt ins Nebenzimmer zum Sozialarbeiter oder sagt: „Kommen Sie bitte Donnerstagnachmittag wieder, da haben wir jemanden in der Praxis, der sich viel besser um ihre Probleme kümmern kann als wir.“
Reusch: Das ist ein hoch präventiver Ansatz, den ich unterstütze. Vielleicht gelingt es uns, hier gemeinsam mit der Gesundheitsbehörde, die ja auch Sozialbehörde ist, ein Modell zu entwickeln. Die Ärztinnen und Ärzte müssen von sachfremden Aufgaben entlastet werden – dazu gehören auch Büro- und Verwaltungstätigkeiten. Stattdessen hat man beispielsweise bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens sehr kühl die Verwaltungstätigkeiten insbesondere der Krankenkassen bei den Praxen abgeladen.
parey: Die erste Funktion der Telematikinfrastruktur war das Stammdatenmanagement. Weshalb sollte es unsere Aufgabe sein, zu prüfen, ob die Krankenkassen die richtigen Patientendaten haben? Was ist das für eine Idee? Man kann doch nicht Arztkapazitäten zweckentfremden, um die Bürokratie der Krankenkassen erledigt zu bekommen. Ja, wir brauchen eine Digitalisierung der Praxen – aber bitte zur Entlastung der Versorgung, nicht als Bremsklotz.
reusch: Wir stehen durchaus für eine sinnvolle Digitalisierung, die Ärzten und Patienten nützt. Mit der Telematikinfrastruktur jedoch hat man ein dysfunktionales System entwickelt – und es dann unter Strafandrohung in den Praxen eingeführt. Wir müssen der Politik und der Gesellschaft deutlich sagen: „Was ihr da installiert habt, kostet Behandlungszeit. Darüber müsst Ihr Euch im Klaren sein.“
Kann der reformierte Hausarzt-Vermittlungsfall einen positiven Impuls für die Versorgung geben?
parey: Der Hausarzt-Vermittlungsfall bietet durchaus die Chance, den Kontakt zwischen Hausärzten und Spezialisten zu verbessern. Das Modell hat ein großes Potenzial, doch es gibt zwei Probleme: Die Spezialisten bekommen diese Fälle extrabudgetär bezahlt, die Hausärztinnen und Hausärzte jedoch (bislang) nicht. Deshalb gibt es nur geringe Anreize, Patienten zu vermitteln. Das zweite Problem ist, dass die Hausärztinnen und Hausärzte nur 15 Prozent der Fälle als Hausarzt-Vermittlungsfall abrechnen dürfen. Ideal wäre, wenn die Spezialisten nur noch auf hausärztliche Vermittlung hin arbeiten würden, weil das eine präzisere Steuerung der Patienten in die passende Versorgung mit sich brächte. Doch nun müssen wir mit dieser defizitären Konstruktion arbeiten und gemeinschaftlich zusehen, dass wir schnelle und unkomplizierte Vermittlungswege finden.
Wie könnten diese Vermittlungswege aussehen?
parey: Wir haben ja ein Online-Vermittlungstool der KBV zur Verfügung gestellt bekommen. Wenn ich auf diese Weise meine Patienten mit fünf Klicks an einen Spezialisten vermitteln könnte, würde ich das Tool sicherlich nutzen. Doch es sind 50 Klicks. Man hat einfach das alte Tool für die Terminservice-Fälle aufgebohrt. Ich muss den Hausarzt-Vermittlungsfall erst mal zum Terminservice-Fall machen und die ganze Bürokratie des Terminservice-Falls mitnehmen, um dann den Hausarzt-Vermittlungsfall zu generieren, der für sich genommen gar nicht so kompliziert wäre.
reusch: Das zeigt wieder: Verwaltungen haben ihr Eigenleben und sind weit weg von der Praxis. Der Umgang mit den Hausarztvermittlungs-Fällen gehört zu den Themen, bei denen die direkt Betroffenen sich zusammensetzen und über Lösungen nachdenken sollten.
Wären die Kreisversammlungen dafür der richtige Rahmen?
parey: Ja, durchaus. Wenn man sich überlegt, welche Probleme auf Kreisebene zu lösen sind, gehört die Knüpfung von Netzwerken für den Hausarzt-Vermittlungsfall definitiv dazu.
Welche Rolle können die Kreise künftig noch spielen?
reusch: Früher gehörte es zum guten Ton, dass man sich als Neu-Niedergelassener in der Kreisversammlung vorstellte. Man lernte sich kennen, fand seine Netzwerke. Die Kreisobleute hatten bei gesundheitspolitischen Themen einen Informationsvorsprung und teilten ihr Wissen mit den Kolleginnen und Kollegen. Ich glaube, dass heute andere Kommunikationswelten an Bedeutung gewinnen. Die meisten Informationen sind direkt im Internet verfügbar. Die Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind über digitale Messenger-Dienste verbunden. Wir prüfen, ob es möglich ist, digitale Plattformen für die jeweiligen Kreise zu schaffen. Dort könnten sich die Kolleginnen und Kollegen über lokale Themen austauschen. Neu-Niedergelassene könnten sich vorstellen. Und man könnte direkte Kommunikationswege und Geheim-Telefonnummern abrufbar machen. Vielleicht wäre es für die Mitglieder einfacher, die Kreisversammlung als Videokonferenz abzuhalten. Das sind spontane Ideen. Wir sollten nachfragen, was vor Ort gebraucht wird – und die Kreise zusammen mit den jüngeren KV-Mitgliedern neu erfinden
DR. MICHAEL REUSCH ist Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Niendorf und Vorsitzender des Landesverbands Hamburg des Berufsverbands der Deutschen Dermatologen. Von 2002 bis 2006 war er Präsident der Ärztekammer Hamburg.
DR. BJÖRN PAREY ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Volksdorf und Vorstandsmitglied im Hamburger Hausärzteverband.