Beeinflussen Pharmavertreter das Verschreibungsverhalten?
Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin
Von Prof. Dr. med. David Klemperer im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (www.ebm-netzwerk.de)
Die Aufgabe von Pharmavertreterinnen und Pharmavertretern besteht darin, Ärztinnen und Ärzte davon zu überzeugen, ein bestimmtes Medikament zu verschreiben.
Im günstigen Fall bewerben Pharmavertreter ein Medikament mit guter Studienlage für einen relevanten Patientennutzen. Im ungünstigen Fall arbeiten sie für ein Medikament, das nicht besser oder sogar schlechter ist als die konkurrierenden Produkte anderer Firmen. Als Vertreter im Außendienst haben sie die tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteile ihres Medikaments zu betonen und die Nachteile der Konkurrenzprodukte hervorzuheben. Dies sind Selbstverständlichkeiten – es würde Erstaunen hervorrufen, wenn ein Pharmavertreter ein überlegenes Medikament der Konkurrenz empfehlen würde.
Daher haben Ärztinnen und Ärzte häufig gemischte Gefühle gegenüber Pharmavertretern. Ihnen ist bewusst, dass es um Werbung und Manipulation geht. Eine kleine Minderheit lehnt aus diesem Grund den Kontakt ab, aber die große Mehrheit nicht. Wenn es nicht die objektive Information über Medikamente ist, müssen es andere Dinge sein, die Ärzte dazu motivieren, einen Teil ihrer knappen Zeit mit Pharmavertretern zu verbringen.
Pharmamarketing ist Beziehungsmarketing
Aus Sicht der Industrie handelt es sich beim Pharmamarketing um „Beziehungsmarketing“ (1; – S.167ff). Sympathie und Reziprozität, vom Psychologen Robert Cialdini als „Waffen der Einflussnahme“ bezeichnet (2), stehen dabei im Vordergrund. Pharmavertreter und Pharmavertreterinnen sind in aller Regel gutaussehend, gut gekleidet (Tipp: Pharmareferent in Google-Suche eingeben, bei Ergebnissen Bilder anklicken) und haben eine zugewandte, gewinnende Art, die sie uns als sympathisch, angenehm bis hin zu freundschaftlich wahrnehmen lässt.
Sie zeigen sich interessiert, nicht nur am Verschreibungsverhalten, sondern auch an Fragen des Praxisalltags, der Praxisorganisation und auch an persönlichen und privaten Dingen. Aus diesen Informationen erstellen sie ein Kundenprofil, schätzen den potenziellen Wert des Arztes für das Unternehmen ein und entwickeln eine Strategie zur „Bearbeitung“ des „Kunden“ entsprechend seinen spezifischen Bedürfnissen. Der Zusatznutzen für den Arzt kann z. B. in Fortbildung für sich oder das Praxisteam bestehen oder in Arbeitserleichterungen durch Verbesserung der Praxisorganisation, wie es in einem „Leitfaden für die tägliche Praxis“ für Pharmavertreter heißt (3; – S.239).
Die früher üblichen hochwertigen Geschenkartikel, Einladungen zu teuren Essen usw. hat die Industrie mittlerweile durch subtilere, individuelle und indirekte – nicht auf ein bestimmtes Produkt zielende – Marketingtools ersetzt. Nicht geändert hat sich das Ziel der Marketing-Maßnahmen, nämlich die Ärztinnen und Ärzte zur Verschreibung bestimmter Medikamente zu veranlassen (1; – S.168).
In jedem Fall geht es darum, Reziprozität auf Seiten der Ärztin bzw. des Arztes zu triggern. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das unser Verhalten weitgehend automatisch und unbewusst steuert. Reziprozität besagt, dass wir uns für Gefälligkeiten, Geschenke, Einladungen und dergleichen zu revanchieren haben. Diese Verhaltensregel ist für Kooperation und sozialen Fortschritt außerordentlich wertvoll und erscheint in allen Gesellschaften tief verwurzelt (2; – S.43ff). Sie kann aber auch zur Manipulation von Verhalten eingesetzt werden. Pharmavertreter erzeugen und nutzen Reziprozität in Verbindung mit der „Waffe“ Sympathie, die besagt, dass wir eher die Wünsche von denen erfüllen, die uns sympathisch erscheinen.
Ist Ärztinnen und Ärzten bewusst, dass sie manipuliert werden?
Eine deutsche Studie stellte fest, dass Ärzte die Informationsangebote von Pharmavertretern häufig schätzen, einige Ärzte sie sogar als wichtigste Informationsquelle für neue Medikamente nutzen (4). Den meisten ist bewusst, dass es den Pharmavertretern um Beeinflussung und nicht um objektive Information geht. Sie vermuten auch, dass Pharmavertreter damit Erfolg haben – allerdings nur bei den Kollegen, nicht bei ihnen selbst. Die Frage, ob sie selbst beeinflusst werden, verneinen sie. Darin irren sie jedoch. Grund dafür ist der in uns allen tief verankerte Bias in der Beurteilung des eignen Bias. Es zählt zum psychologischen Allgemeinwissen, dass Menschen dazu neigen, die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen – 93 % einer Gruppe von Autofahrern schätzte sich in ihren Fahrkünsten als überdurchschnittlich ein, lautet nur eines von zahlreichen Studienergebnissen zum „better-than-average“-Effekt (5).
Bezüglich der Beeinflussung durch Pharmavertreter erweisen sich gerade diejenigen Personen als besonders anfällig, die sich für nicht beeinflussbar halten – sie überschätzen ihre Fähigkeit, die Waffen Reziprozität und Sympathie abzuwehren. Diese Blindheit für die eigene verzerrte Wahrnehmung wird als „bias blind spot“ (6) und auch als Resistenzillusion bezeichnet.
Ärzte in der pharmazeutischen Wertschöpfungskette
Niedergelassene Ärzte sind ein lohnendes Objekt für Pharmamarketing, aber natürlich nicht das einzige. Die Kooperation von Industrie und Ärzten ist regelhaft Teil der pharmazeutischen Wertschöpfungskette („value chain“), dem Weg von der Forschung und Entwicklung über Herstellung, Zulassung bis hin zur Markteinspeisung eines neuen Medikaments (7).
Der Markteinspeisung und Marktdurchdringung dient nicht nur die Tätigkeit von Pharmavertretern, sondern auch die ärztliche Fortbildung, die in großem Umfang von pharmazeutischen Unternehmen finanziert wird. Jedes Element in der Wertschöpfungskette prüft das Unternehmen auf ihren return on investment (ROI), also darauf, dass das Ergebnis höher ist als der Einsatz.
Ärzte spielen an verschiedenen Stellen der Wertschöpfungskette eine wichtige und bei der Markteinspeisung und -durchdringung eine entscheidende Rolle. Die Tätigkeit der Pharmavertreter im Hinblick auf niedergelassene und auch auf im Krankenhaus tätige Ärztinnen und Ärzte ist daher für das pharmazeutische Unternehmen eine Notwendigkeit.
Zur Wertschöpfungskette zählt auch eine kleine Anzahl von Ärztinnen und Ärzten, die aufgrund ihrer Qualifikation, ihres Einflusses in Fachgesellschaften und auf Leitlinien sowie ihrer Geneigtheit zum jeweiligen Hersteller sorgfältig selektiert und zu Meinungsführern (key opinion leaders, KOL) herangebildet wird (8; – S.224ff). Zu ihren Aufgaben zählt es, Produkte eines oder mehrerer Hersteller durch bezahlte Vorträge zu bewerben, mit Industriegeldern zu forschen, in hochrangigen Journalen zu publizieren, die Ergebnisse auf Kongressen zu präsentieren und sich an der Leitlinienentwicklung zu beteiligen.
Der ROI von KOL gilt als besonders günstig. Ein weiteres Marketingelement sind Vorteilsgaben von Arzneimittelherstellern, die nicht mit einer konkreten ärztlichen Gegenleistung verknüpft sind, sondern der „Landschaftspflege“ oder auch „Klimapflege“ dienen und über den Reziprozitätsmechanismus das allgemeine unspezifische Wohlwollen der Nehmenden sichern sollen (9). Dies erfolgt z. B. über die Finanzierung von Jahreskongressen von Fachgesellschaften, zu denen pharmazeutische Unternehmen mit bis zu sechsstelligen Beträgen für Ausstellungsstände und Symposien beitragen.
Als Beispiel sei die unvollständige Liste der Sponsoren des Jahreskongresses 2023 der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin genannt (Website DGIM https://tinyurl.com/2zdr6865).
Funktioniert die Manipulation?
Die Studienlage weist eindeutig darauf hin, dass die Beeinflussung des Verschreibungsverhaltens durch finanzielle und andere Zuwendungen erfolgreich ist (10). Alles andere wäre auch sehr verwunderlich, weil ein gewinnorientiertes Unternehmen sorgfältig darauf achtet, dass die Mittel, die für Marketingmaßnahmen ausgegeben werden, Gewinn bringen.
Was hat dies alles mit dem Thema Interessenkonflikt zu tun?
Ärzte nehmen die Rolle von Treuhändern ein, dem die Patienten ihr Gesundheitsproblem mit der Erwartung anvertrauen, loyal und allein zu ihrem Wohl tätig zu sein. Interessenkonflikte sind Situationen, die diese Verpflichtung zur Loyalität infrage stellen.
Das Patientenwohl ist somit das primäre Interesse eines Arztes bzw. einer Ärztin. Sekundär ist ein Interesse, das neben dem primären Interesse besteht und in Konflikt mit diesem stehen kann.
Unterschieden wird zwischen direkten finanziellen Interessenkonflikten und indirekten Interessenkonflikten (11). Zu Letzteren zählen persönliche Vorteile, die nicht direkt mit Geldflüssen verbunden sind, wie Verbesserung des fachlichen Renommees oder Förderung der wissenschaftlichen Karriere. Zur Förderung des Absatzes ihrer Produkte setzen oder verstärken pharmazeutische Unternehmen sekundäre Interessen und befeuern damit Interessenkonflikte.
Fazit
Pharmavertreter haben nicht die Aufgabe, objektiv über Medikamente zu informieren. Ärztinnen und Ärzte sollten daher industrieunabhängige Quellen für Arzneimittelinformationen nutzen. Niemand sollte sich der – in Fragen der Arzneimittelwirkungen gefährlichen – Illusion hingeben, nicht beeinflussbar zu sein.
PROF. DR. MED. DAVID KLEMPERER
Hochschullehrer für Sozialmedizin, Public Health und Gesundheitswissenschaften an der Technischen Hochschule Regensburg, Past President des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin
Literatur:
1) Herold N. Alte und neue Formen der vorteilsbasierten Ärzteansprache. In: Kölbel R. Institutionelle Korruption und Arzneimittelvertrieb. Berlin, Heidelberg: Springer 2019; S. 165-184.
2) Cialdini RB. Die Psychologie des Überzeugens. 8. unveränderte Auflage. Basel: Hogrefe; 2017.
3) Trilling T. Pharmamarketing. 3. Auflage. Berlin Heidelberg: Springer Gabler; 2015.
4) Lieb K, Scheurich A. Contact between Doctors and the Pharmaceutical Industry, Their Perceptions, and the Effects on Prescribing Habits. PLoS ONE. 2014;9(10):e110130.
5) Svenson O. Are we all less risky and more skillful than our fellow drivers? Acta Psychologica. 1981;47(2):143-8.
6) Pronin E, Lin DY, Ross L. The Bias Blind Spot: Perceptions of Bias in Self Versus Others. Pers Soc Psychol Bull. 2002;28(3):369-81.
7) Singh J, Jayanti RK. Closing the Marketing Strategy-Tactics Gap: An Institutional Theory Analysis of Pharmaceutical Value Chain. In: Ding M, Eliashberg J, Stremersch S. Innovation and Marketing in the Pharmaceutical Industry. Emerging Practices, Research, and Policies. New York: Springer; 2014. S. 701-735
8) Herold N. Medizinische Autorität und Interessenkonflikt: Content is King. In: Kölbel R. Institutionelle Korruption und Arzneimittelvertrieb. Berlin, Heidelberg; 2019. S. 209-241.
9) Kölbel R. Die strafrechtliche Regulierung des Pharmavertriebs. In: Kölbel R. Institutionelle Korruption und Arzneimittelvertrieb. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg; 2019. S. 55-67
10) Fickweiler F, Fickweiler W, Urbach E. Interactions between physicians and the pharmaceutical industry generally and sales representatives specifically and their association with physicians’ attitudes and prescribing habits: a systematic review. BMJ Open. 2017;7(9):e016408.
11) Klemperer D, Lieb K. Was sind Interessen und Interessenkonflikte? In: Lieb, K., Klemperer, D., Kölbel, R., & Ludwig, W.-D. (2018). Interessenkonflikte, Korruption und Compliance im Gesundheitswesen. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2018 , S. 3-12