12/2024 12/2024

Warum es unerlässlich ist, Patient:innen in Entscheidungen über ihre Gesundheit einzubeziehen

Aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin

Von Prof. Dr. Anke Steckelberg und Prof. Dr. Tanja Krones im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (www.ebm-netzwerk.de)

Zunächst der Erfahrungsbericht eines Patienten aus dem Frühjahr 2024:
Der Patient Herr Max Mustermann (der Name ist frei erfunden, der Fall jedoch real) ist 65 Jahre alt und sein Hausarzt schlug ihm einen Check-up vor und fragte auch „…und wie sieht es mit dem Darm aus“? Ohne diesen Vorschlag zu vertiefen, hatte Herr Mustermann eine Überweisung zum Gastroenterologen in der Hand. Bis zu dem Termin blieb ihm noch Zeit - Zeit, in der ihm auch Fragen zur Darmspiegelung kamen. Im Internet fand er Informationen zu Nutzen und Schaden der Untersuchung, und es kamen ihm Zweifel (u.a. hatte er Information vom GBA gefunden). (1) Im dann folgenden Gespräch mit dem Gastroenterologen wollte er von den Informationen aus dem Internet berichten, wurde aber „…auf der Stelle abgebügelt“. „Wie kommen Sie darauf, dass es nicht sinnvoll sein könnte“. „Das ist eine komische Wissenschaft, das ist Quatsch“…
Herr Mustermann hat diese Praxis kein zweites Mal aufgesucht …

Evidenzbasierte Versorgung umfasst neben der klinischen Expertise und der vorhandenen Evidenz die Einbeziehung der Werte und Präferenzen der Patient:innen. Ärztliche Fürsorge im heutigen Ethik- (2-3) und Rechtsverständnis (4) bedeutet eine „selbstbestimmungsermöglichende Sorge“. (3)
Ziel der ärztlichen Fürsorge ist es, die Patient:innen bestmöglich zu befähigen, eine valide, auf den wohlerwogenen Präferenzen beruhende, informierte Entscheidung zu ermöglichen.
Anders als es Herrn Mustermann im vorstehenden Fall durch die beteiligten Ärzte suggeriert wurde, gibt es – dies ist eine der grundlegenden Erkenntnisse einer reflektierten evidenzbasierten Medizin für die meisten medizinischen Situationen – mehrere Möglichkeiten (5-6).

Dies trifft unter anderem auch auf alle Screening-Entscheidungen zu, da jedes Screening nicht nur nutzt, sondern auch schadet (7), was auch für das Darmkrebsscreening gilt (8-9).
Wenn Patient:innen selbst nach einer solchen missglückten Kommunikation und Konsultation im Internet auf die Suche nach verlässlichen Informationen gehen, werden sie im besten Fall – mit Glück – fündig und bemerken, dass Nutzen und Risiken von Screeninguntersuchungen einer fundierten Abwägung bedürfen und medizinische Entscheidungen tatsächlich oft weniger eindeutig sind als gedacht und daher „präferenzsensitiv“ sind. Ohne Hilfestellung kann dies zu Entscheidungskonflikten führen. (10-11)

Wie können Entscheidungen unterstützt werden?
Eine bestmögliche gemeinsame Entscheidungsfindung für präferenzsensitive Entscheidungen, wie dies bei Screeningverfahren regelhaft der Fall ist, beruht auf zwei Komponenten:

Erstens: Kommunikativen Fertigkeiten, mit denen die Patient:innen sensibel dazu eingeladen werden, die Evidenz, übertragen auf die individuelle Situation, gemeinsam anzuschauen und mögliche Optionen im Licht der individuellen Präferenzen abzuwägen. Dazu gehört die Schlüsselbotschaft, dass – sofern dies zutrifft – die Medizin selbst keine eindeutige Antwort darauf gibt, was zu tun ist, und es für eine bestmögliche Entscheidung auf die Präferenzen der individuellen Patient:innen ankommt. Anders als bei der rechtlich minimal notwendigen Voraussetzung für eine informierte Zustimmung werden die Patient:innen daher in die „black box“ der Indikationsstellung mit einbezogen. Diese kommunikativen Fertigkeiten können wie andere ärztliche Fertigkeiten ein Leben lang verbessert werden. (12-13)

Zum Zweiten dienen evidenzbasierte Entscheidungshilfen als Informationsmaterialien dazu, diese Informationen und Abwägungen selbst für Patient:innen mit geringem formalen Bildungshintergrund verständlich zu machen. (14) Abbildungen können u.a. helfen, abstrakte Zahlen alltagsnah zu verdeutlichen.

In einem kürzlich publizierten Update des meistzitierten Cochrane Reviews der Welt zur Wirksamkeit von Entscheidungshilfen für Patient:innen wurden insgesamt 209 Studien eingeschlossen, die in den Bereichen kardiovaskuläre Behandlungen (n = 22 Studien), Krebsvorsorge (n = 17 Studien zu kolorektalen Erkrankungen,15 Prostata, 12 Brust), Krebsbehandlungen (z. B. 15 Brust, 11 Prostata), psychische Behandlungen (n = 10 Studien) und Gelenkersatz-Chirurgie (n = 9 Studien) durchgeführt wurden. Die Ergebnisse (15) zeigen:

Entscheidungshilfen führen

  • zu mehr informierten, wertekongruenten Entscheidungen,

  • zu einem großen Zuwachs an Wissen,

  • zu einer genauen Risikowahrnehmung und

  • einer aktiven Rolle bei der Entscheidungsfindung.

Max Mustermann hatte die Information des GBA identifiziert, die sich auf die bereits zitierte Studie bezogen. (9) In 2022 wurde diese NORDICC-Studie, eine randomisiert kontrollierte Studie, veröffentlicht, die die Koloskopie als Screeningmaßnahme gegen kein Screening getestet hatte. Die Ergebnisse zeigen nach 10 Jahren keinen statistisch signifikanten Unterschied hinsichtlich der Darmkrebsmortalität: Nach 10 Jahren starben in der Kontrollgruppe 0.31% im Vergleich zu 0.28% in der Gruppe, die zum Screening eingeladen wurden (risk ratio 0.90, 95%, confidence interval 0.64 - 1.16). (9)

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse stellt das begleitende Editorial die Sinnhaftigkeit des Koloskopiescreenings in Frage und hebt den starken ethischen Imperativ des Shared Decision Making hervor. (8)
Die in der Praxis oft geäußerten Bedenken, dass diese Informationsprozesse deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen würden, konnten auch hier nicht bestätigt werden. Es gab keinen Unterschied in der Dauer der Konsultation, wenn Entscheidungshilfen zur Vorbereitung der Konsultation verwendet wurden (MD -2,97 Minuten, 95%-KI -7,84 bis 1,90). Wurden Entscheidungshilfen während der Konsultation mit dem Arzt bzw. der Ärztin verwendet, dauerte die Konsultation 1,5 Minuten länger (MD 1,50 Minuten, 95% KI 0,79 bis 2,20). (9)

Der Anspruch auf umfassendere Informationen ist, wie bereits oben erwähnt, seit 2013 auch im Patientenrechtegesetz verankert. Eine Aufklärung über beispielsweise diagnostische oder therapeutische Maßnahmen muss rechtzeitig und in verständlicher Weise erfolgen. Zur Aufklärungspflicht gehört, alle vorhandenen Alternativen zu benennen und bei Bedarf verständlich zu erläutern, hinsichtlich Art, Umfang, Durchführung, Folgen und Risiken.

Wie können Werte und Präferenzen der Patient:innen berücksichtigt werden?
Für die Einbeziehung der Werte- und Präferenzen stehen zum einen sogenannte value clarification tools in den Entscheidungshilfen zur Verfügung. Zum anderen können Angehörige der Gesundheitsfachberufe als sogenannte Decision Coaches den Entscheidungsprozess unterstützen.

Welche Kompetenzen brauchen die beteiligten Professionen?
Um den ethischen und rechtlichen Anspruch der Patient:innen auf Partizipation und informierte Entscheidungen zu realisieren, brauchen die beteiligten Professionen neben der klinischen Kompetenz insbesondere kommunikative Kompetenzen. Hilfreich wäre, wenn auch diese Kompetenzen schon in der Ausbildung erworben werden könnten. (16)

Was braucht es noch, um den ethischen Anspruch umzusetzen?
Die Barrieren sind bekannt. Diesen kann mit den folgenden Maßnahmen entgegengewirkt werden:
● Es werden Strukturen benötigt, die die Bereitstellung evidenzbasierter Entscheidungshilfen sicherstellen.
● SDM sollte systematisch in die Curricula aller Gesundheitsprofessionen implementiert werden.

PROF. DR. MED. DIPL. SOZ. TANJA KRONES
Universitätsspital Zürich/Universität Zürich
Direktion Corporate Center Funktionen
Rämistrasse 100, 8091 Zürich / Schweiz
E-Mail: tanja.krones@usz.ch

PROF. DR. PHIL. ANKE STECKELBERG
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät
Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Magdeburger Str. 8
06112 Halle (Saale)

Literatur:

1) Gemeinsamer Bundesausschuss: Versicherteninformationen zu Früherkennungsuntersuchungen (2024) https://www.g-ba.de/service/versicherteninformationen/frueherkennungsuntersuchungen/ (Zugriff: 20.10.2024).

2) Beauchamp TL, Childress JF. Principles of biomedical ethics. New York, Oxford: Oxford University Press; 2019.

3) Deutscher Ethikrat (2016) Patientenwohl als ethischer Massstab für das Krankenhaus. https://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/patientenwohl-als-ethischer-massstab-fuer-das-krankenhaus/. (Zugriff: 20.10.2024).

4) Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten. Beschlussempfehlung und Bericht . https://dserver.bundestag.de/btd/17/117/1711710.pdf (Zugriff: 20.10.2024).

5) Lomas J, Lavis J (1996). Guidelines in the mist. Centre for health economics and policy analysis working paper. No 1996-23. https://econpapers.repec.org/paper/hpawpaper/199623.htm (Zugriff: 20.10.2024).

6) Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn't. BMJ. 1996 Jan 13;312(7023):71-2

7) Dobrow MJ, Hagens V, Chafe R, Sullivan T, Rabeneck L. Consolidated principles for screening based on a systematic review and consensus process. CMAJ. 2018 Apr 9;190(14):E422-E429. https://doi.org/10.1503/cmaj.171154. PMID: 29632037; PMCID: PMC5893317.

8) Johansson M. The questionable value of colorectal cancer screening. BMJ. 2023 Jan 27;380:200. doi: 10.1136/bmj.p200. PMID: 36707088

9) Bretthauer M, Løberg M, Wieszczy P, Kalager M, Emilsson L, Garborg K, Rupinski M, Dekker E, Spaander M, Bugajski M, Holme Ø, Zauber AG, Pilonis ND, Mroz A, Kuipers EJ, Shi J, Hernán MA, Adami HO, Regula J, Hoff G, Kaminski MF; NordICC Study Group. Effect of Colonoscopy Screening on Risks of Colorectal Cancer and Related Death. N Engl J Med. 2022 Oct 27;387(17):1547-1556

10) LeBlanc, A., et al. (2009). "Decisional conflict in patients and their physicians: a dyadic approach to shared decision making." Med Decis Making 29(1): 61-68

11) NANDA (2024). Decisional Conflict. Nursing Diagnoses. URL: https://nandadiagnoses.com/decisional-conflict/ (Zugriff: 20.10.2024).

12) Kienlin S, Nytrøen K, Stacey D, Kasper J. Ready for shared decision making: Pretesting a training module for health professionals on sharing decisions with their patients. J Eval Clin Pract. 2020;26(2):610–21. doi: http://dx.doi.org/10.1111/jep.13380. PubMed

13) Geiger F, Hacke C, Potthoff J, et al. The effect of a Scalable online training Module for shared decision making based on flawed Video examples – a randomized controlled trial. Patient Educ Couns 2021;104:1568–74

14) Ellermann C, Hinneburg J, Wilhelm et al (preprint) Can health information and decision aids decrease inequity in health care? A systematic review on the equality of their effectiveness. .https://medrxiv.org/cgi/content/short/2024.09.24.24314314v1

15) Stacey, D., et al. (2024). "Decision aids for people facing health treatment or screening decisions." Cochrane Database of Systematic Reviews. CD001431 DOI: 10.1002/14651858.CD001431.pub6

16) Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Behandlungsgespräche; Führt eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient bei der Therapiewahl zu besseren Ergebnissen? HTA-Bericht im Auftrag des IQWiG [online]. 2024 URL: https://doi.org/10.60584/HT22-01. (Zugriff: 20.10.2024).