12/2023 12/2023

„Wie lange muss mein Kind auf Hilfe warten?“

Interview

Bei der psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Hamburg gibt es eklatante Engpässe. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Daniela Weiß über die massive Nachfrage nach Therapieplätzen, den schwierigen Umgang mit begrenzten Kapazitäten und die möglichen Spätfolgen verschleppter Behandlungen.

Die Vertreterversammlung der KV Hamburg hat eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wird, die vertragspsychotherapeutische Bedarfsplanung zu reformieren. Insbesondere die Wartezeiten für Kinder und Jugendliche seien zu lang, heißt es. Wie macht sich der Mangel an Therapieplätzen in Ihrer täglichen Arbeit bemerkbar?

weiß: Meine Warteliste ist derzeit geschlossen, weil die Nachfrage nicht mal mehr ansatzweise zu bewältigen ist. Wenn Eltern ihr Kind oder wenn Jugendliche sich selbstständig auf die Warteliste für einen Psychotherapieplatz setzen lassen, möchten sie verständlicherweise oft wissen: „Mit welcher Wartezeit muss denn in etwa gerechnet werden?“ Diese Frage kann ich nicht mal mehr annäherungsweise beantworten. Ich kann nur sagen: „Das wird sehr lange dauern. Möglicherweise in meiner Praxis derzeit bis zu ein oder zwei Jahren.“ Ich arbeite in Bergedorf auf einer halben Zulassung im Einzeltherapie-Setting und habe im Schnitt alle paar Monate einen freien Therapieplatz. Doch ich bekomme zeitweise bis zu vier oder fünf Anfragen pro Woche. Das steht in keinem Verhältnis zueinander. Deshalb erscheint es mir nicht sinnvoll, meine bereits überfüllte Warteliste momentan weiterzuführen.

Wie gehen andere Praxen mit dieser Problematik um?

weiß: Soweit ich weiß, ganz unterschiedlich. Ich habe mich mit Kolleginnen und Kollegen darüber ausgetauscht, weil ich unsicher war, wie ich am besten mit der Situation umgehe. Es gibt Praxen, die ihre Wartelisten akribisch pflegen – auch dann, wenn die Interessenten ganz unten auf der Liste möglicherweise einige Jahre warten müssen. Einige Kollegen sperren ihre Wartelisten von Zeit zu Zeit und öffnen sie dann wieder. Andere Praxen führen grundsätzlich keine Warteliste mehr. Bei ihnen geht es nach dem Zufallsprinzip: Ruft jemand an, wenn in Kürze ein Therapieplatz frei wird, dann hat die Person möglicherweise zeitnah einen Therapieplatz in Aussicht.

Weshalb hat die Nachfrage nach Psychotherapie für Kinder und Jugendliche so stark zugenommen?

weiß: Zunächst einmal ist es mir wichtig zu erwähnen, dass die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen bereits seit mehreren Jahren nicht flächendeckend in ausreichendem Maße zur Verfügung steht. Die jetzt verstärkte Nachfrage steht selbstverständlich im Zusammenhang mit den Folgen der Corona-Pandemie. Bei der Erhebung der biografischen Anamnesen zeigt sich immer wieder, dass die sozialen Auswirkungen der Pandemie einen verstärkenden Faktor in der Störungsentwicklung oder vor dem Hintergrund bereits latent vorhandener Problemzusammenhänge auch den Auslöser für eine psychische Erkrankung darstellen. Aktuell nehme ich zudem wahr, dass die Gesamtbelastung vieler Eltern zugenommen hat, unter anderem aufgrund der Nachwirkungen der Pandemie-Zeit, aber beispielsweise auch aufgrund von persönlichen und politischen Zukunftssorgen, der Inflation und der wirtschaftlichen Situation. Wenn Eltern belastet sind, hat dies insbesondere auf junge Kinder mitunter starke Auswirkungen.

Therapiestunden für Kinder können eigentlich nur nachmittags stattfinden, weil vormittags Schule ist. Stellt das nicht ein besonderes strukturelles Problem dar?

weiß: Im Einzugsgebiet meiner Praxis ist die Lage inzwischen so angespannt, dass die Familien und die Jugendlichen seit einiger Zeit ganz überwiegend angeben, dass sie jeden Therapieplatz annehmen würden – zu jeder Tageszeit, auch am Vormittag. Es gibt also die Bereitschaft, für eine Psychotherapie regelmäßig die Schule zu verpassen. Dies verdeutlicht den hohen Behandlungsbedarf und damit die Dringlichkeit für eine notwendige Erhöhung der Versorgungskapazitäten für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche.

Wie fühlt es sich an, wenn Sie Eltern oder Jugendlichen eine Absage erteilen müssen?

weiß: Es tut mir in den allermeisten Fällen aufrichtig leid, und ich empfinde diese Situation als belastend. Ich spreche mit Eltern oder Jugendlichen am Telefon, die auf der Suche nach einem Therapieplatz sind und von ihrer Situation erzählen. Zudem bekomme ich Patient:innen über die Terminservicestelle, vor allem für eine erste Sprechstunde, vermittelt. Da sitzen dann Eltern mit ihren Kindern oder Jugendliche, die zum Teil massiv in Not sind, denen ich sagen muss: „Wir können uns jetzt kennenlernen und besprechen, worum es geht. Aber sofern eine Psychotherapie indiziert ist, kann diese anschließend nicht zeitnah bei mir stattfinden. Ich habe keine Plätze frei.“ Diese Menschen lernt man 50 Minuten lang kennen, es findet meistens ein intensives Gespräch statt. Oft gibt es Momente in diesen Sprechstunden, in denen ich damit konfrontiert bin, dass ich weiß, dass ich geeignete Methoden in meinem „therapeutischen Werkzeugkasten“ hätte, um dem Kind oder dem Jugendlichen weiter zu helfen. Ich würde gern „sofort loslegen“, muss mich selbst dann jedoch gedanklich rasch wieder auf den Boden der Tatsachen bringen und den Kontakt letztendlich einfühlsam und professionell beenden. Dabei sehe ich es als äußerst wichtig an, der Familie dennoch Hoffnung zu vermitteln und gegebenenfalls auf weitere Hilfsangebote hinzuweisen.

Was kann passieren, wenn die psychotherapeutische Behandlung von Kindern verschleppt wird?

weiß: Das ist von Fall zu Fall verschieden. Wichtig finde ich es, in diesem Zusammenhang noch einmal zu verdeutlichen, dass es hier um die psychische Gesundheit von – teilweise noch sehr jungen – Kindern geht. Selbstverständlich müssen auch Erwachsene im Bedarfsfall zeitnah psychotherapeutisch versorgt werden. Doch bei Kindern ist zu beachten, dass während der Wartezeit die altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben weiterlaufen, welche unter Umständen nicht angemessen oder zumindest nicht optimal durchlaufen und gemeistert werden können, wenn das Kind aufgrund einer emotionalen Krise beziehungsweise einer unbehandelten psychischen Erkrankung nicht die entsprechenden inneren Ressourcen dafür aufbringen kann. Unbehandelte oder zu spät behandelte psychische Erkrankungen im Kindesalter können sich verstärken, sich ausweiten und zum Teil beachtliche soziale Folgeprobleme nach sich ziehen. Das kann auch bedeuten, dass eine verspätete Behandlung viel aufwendiger und langwieriger ist. Möglicherweise kann auch ein stationärer Aufenthalt notwendig werden. Durch eine frühzeitige Behandlung kann, insbesondere bei jungen Kindern, in einigen Problemkonstellationen bereits mit wenigen Therapiestunden ein sehr gutes Behandlungsergebnis erzielt werden. Dies kann beispielsweise bei kindlichen Traumafolgestörungen nach einem einzelnen traumatischen Ereignis oder auch bei anderen psychischen Erkrankungen der Fall sein, die noch nicht chronifiziert sind. Hin und wieder gibt es Fälle, bei denen ein massiver Leidensdruck und – ohne zeitnahe Behandlung eine folgenschwere psychische Problematik – einem extrem geringen Behandlungsaufwand gegenübersteht. Das sind die einzigen Situationen, in denen ich dann doch ggf. mal eine Ausnahme mache und ein Kind - trotz fehlender Kapazitäten - irgendwie mit unterschiebe für beispielsweise eine kurze Akutbehandlung.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

weiß: Ich habe beispielsweise mal über die Terminservicestelle ein Kind in die Sprechstunde vermittelt bekommen, das bereits seit mehr als vier Wochen keinerlei gewöhnliche Nahrung mehr zu sich nehmen konnte, nachdem es sich an einem Bonbon verschluckt – und dabei für kurze Zeit unter Luftnot gelitten hatte.* Das Kind ernährte sich seit dem traumatischen Ereignis ausschließlich von ärztlich verschriebener Trinknahrung. Bis zu diesem Zeitpunkt sei die emotionale Entwicklung gesund verlaufen. Das Kind litt extrem unter der Situation – nicht nur, weil es unglaublich gern wieder seine Lieblingsspeisen essen wollte, sondern auch, weil es sich in diversen sozialen Kontexten wie dem Mittagessen in der Schule oder bei Feierlichkeiten nun in einer schwierigen Position befand, was wiederum selbstwertmindernd wirken kann. Hier standen also anzunehmende massive körperliche, soziale und psychische Folgeprobleme bei einem nicht zeitnahen Behandlungsbeginn einem prognostisch extrem geringen Behandlungsaufwand bei sofortigem Behandlungsbeginn gegenüber. Meine Einschätzung war, dass das Kind nach 5 bis 10 Sitzungen wieder essen können würde. Ich finde, in einer solchen Situation kann man einem Kind allein schon aus ethischen Gründen nicht sagen: „Du musst jetzt monatelang auf Hilfe warten.“ Also habe ich ausnahmsweise eine Akutbehandlung angeboten. Diese Stunden habe ich zusätzlich gegeben oder in den zeitlichen Lücken untergebracht, die entstehen, wenn andere Patienten absagen. Tatsächlich war der therapeutische Aufwand gering; nach wenigen Sitzungen in der Akutbehandlung konnte das Kind wieder alles essen.

Wäre es sinnvoll, die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in der Bedarfsplanung als eigene Gruppe zu erfassen?

weiß: Ja, das würde ich befürworten. Ich denke, dass dadurch der tatsächliche Bedarf an Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie gezielter ermittelt – und die Versorgung entsprechend geplant werden könnte. Schließlich bilden auch Kinder- und Jugendärzte eine eigene Gruppe in der Bedarfsplanung und werden nicht mit den Hausärzt:innen einer gemeinsamen Arztgruppe zugeordnet. Voraussetzung für eine bedarfsgerechte Versorgung ist aber vor allem die Überarbeitung der Bedarfsplanung! Laut der derzeit noch geltenden Bedarfsplanung ist Hamburg rechnerisch überversorgt mit Psychotherapeut:innen. Die reale Situation ist davon völlig abgekoppelt. Die angekündigte Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung muss schnellstmöglich umgesetzt werden. Insbesondere psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche brauchen umgehend und in ausreichendem Maß Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten!

*Die Familie hat ihr Einverständnis gegeben, die Falldarstellung in dieser Form anonymisiert zu veröffentlichen.