Gibt es eine Ärzteschwemme?
Kolumne
von Dr. Matthias Soyka
Orthopäde in Hamburg-Bergedorf
In den achtziger Jahren gab es eine Ärzteschwemme. Man sagte, es gäbe zu viel von uns jungen Ärzten und ließ uns das ziemlich deutlich spüren.
Trotzdem konnte ich meine erste Stelle noch wählen. Ich nahm die dritte Zusage an. Weil die Chefs der beiden anderen Kliniken ziemlich angesäuert reagierten, zweifelte ich schon damals an der Ärzteschwemme. Doch sie diente als Argument, junge Ärzte für die ersten vier Jahre um eine Stufe im Bundesangestelltentarifvertrag abzusenken. Das kostete jeden von uns ein paar 1000 Euro.
Noch schlimmer wurde es, als man den Arzt im Praktikum einführte. Jetzt mussten Ärzte für ein Drittel des bisherigen Gehalts ihre ersten 1,5 Berufsjahre durchhalten. Auch hier die Begründung: Ihr seid zu viele. Wenn man sich beim Chef oder der Verwaltung beschwerte, bekam man zu hören: Es gibt Ärzte wie Sand am Meer. Was wollen Sie eigentlich?
Als Konsequenz trauten sich viele Jungärzte gar nichts mehr zu sagen. Vielleicht hat die daraus resultierende Unsicherheit und Schüchternheit bei der Durchsetzung eigener Positionen Nachwirkungen bis heute.
In den letzten Jahren war von einer Ärzteschwemme keine Rede mehr. Im Gegenteil, man sprach sogar von Ärztemangel. Aber anscheinend habe ich danach etwas verpasst. Es muss inzwischen wieder eine Ärzteschwemme geben. Denn anders ist nicht zu erklären, wie Politik und Kassen gerade versuchen, den Arztberuf maximal unattraktiv zu machen.
Ein paar aktuelle Beispiele: Der Punktwert für die ärztliche Versorgung von Kassenpatienten wurde gerade um beschämende 3,85 Prozent erhöht. Doch selbst diese minimale Erhöhung kommt bei den Ärzten gar nicht an, weil sie durch das Gesamtbudget aufgefressen wird. Zum Teil gibt es sogar eine Absenkung der Vergütung. Ein echter Inflationsausgleich wird den niedergelassenen Ärzten nicht zugestanden. Selbst der Ausgleich der dringend nötigen Tariferhöhungen für medizinische Fachangestellte bewirkte keine höhere Steigerung des Punktwerts. Während andere Berufe, vor allem im öffentlichen Dienst, saftige Gehaltserhöhung einfahren, gehen die Ärzte leer aus.
Wenn es keine Ärzteschwemme gäbe, müsste sich die Politik jetzt sehr bemühen, den Arztberuf nicht noch unattraktiver zu machen. Doch sie tut das genaue Gegenteil. Deshalb drängt sich ein Verdacht auf: Vielleicht gibt es doch wieder zu viele Ärzte, und meine Kollegen und ich haben es gar nicht gemerkt. Denn sonst würden Kassen und Politik den Ärzten zumindest etwas Honig ums Maul schmieren, wie damals in der Pandemie. Stattdessen hat man den Eindruck, dass sich Politik und Kassen einen Wettbewerb darum liefern, die Motivation der Ärzte noch weiter in den Keller zu treiben.
Mit Sachzwängen und knappen Kassen halten sich die Kassen gar nicht erst auf, sondern tönen ganz ungeniert, Ärzte seien sowieso schon gut bezahlt. Die Forderung der Ärzte nach einem Inflationsausgleich sei „ritualisierte Kritik“.
Die Bestensverdiener in den Vorstandsetagen der Kassen fordern offensiv die Bugetierung ein, die selbst von der Politik inzwischen als Problem zumindest benannt wird. Allerdings hat die Regierung zwar die Abschaffung der Budgetierung der Hausärzte in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, aber bis jetzt noch nicht einmal dieses kleine Entgegenkommen umgesetzt. Dass die Entbudgetierung der Hautärzte vor dem absehbaren Ende der Koalition kommt, ist inzwischen mehr als unwahrscheinlich - und ob sie den Namen auch wirklich verdient und nicht eine weitere Mogelpackung ist, erst recht.
Derweil nimmt der Stress in vielen Praxen zu. Konnektoren fallen aus oder verursachen Störungen im Praxisverwaltungssystem. AU oder Rezepte können oft nicht ausgestellt werden, weil der Computer wieder streikt oder die Verbindung nach draußen nicht funktioniert.
Das Misstrauen gegen die elektronische Patientenakte ist also nicht unberechtigt. Die Erfahrungen der letzten digitalen Großtaten legen eigentlich nah, die neue ePA ausführlich zu testen, bevor sie flächendeckend eingeführt wird. Doch es sind nur vier Wochen dafür vorgesehen.
Stattdessen sollen alle Abrechnungsdaten, auch die der Vergangenheit, für die Patienten einsehbar auf der ePA abgelegt werden. Es wird die Stimmung der Ärzte sehr heben, wenn sie mit Patienten darüber diskutieren müssen, warum vor drei Jahren ein psychosomatisches Gespräch geführt wurde. Selbstverständlich werden die Preise der Leistungen, die die Patienten auf ihrer elektronischen Gesundheitskarte finden, nicht dem entsprechen, was der Arzt wirklich erhalten hat. Denn die Auswirkungen der Budgetierung sind darin nicht zu sehen, wodurch das Arzteinkommen maßlos überschätzt wird. Das ist natürlich gewollt und lässt viel Raum für Sozialneid.
Im September dislozierte der GKV-Spitzenverband ein Positionspapier an die Presse, das sich wie ein Programm zur Ärztevergraulung liest.
Nach der rituellen Ärztebeschimpfung und Forderung der Budgetierung folgt der eigentliche Hammer. Es ist die Forderung nach einer „Flexibilisierung der Sprechstundenzeiten“. Hierunter verstehen die Kassen einen Rundum-Dienst der Praxen, auch nachts, am Wochenende oder Weihnachten.
Unter dem Stichwort „Konkretisierung des Sicherstellungsauftrags“ fordert der GKV Verband zudem einen verpflichtenden Leistungsrahmen für alle Vertragsärzte. Damit soll erreicht werden, dass auch jene Leistungen zwangsweise erbracht werden, die sich wirtschaftlich gar nicht mehr durchführen lassen, wie zum Beispiel Tonsillektomien durch HNO-Ärzte.
Das Sahnehäubchen dieser Kontrollfantasien ist die Forderung nach einer verpflichtenden, zentralen digitalen Terminvergabe. Ärzte sollen einen Großteil ihrer Termine an ein zentrales Portal unter Kontrolle der Kassen melden und so die Terminvergabe aus der Hand geben. Freie Praxisentscheidungen, sogar das Festlegen des eigenen Urlaubs, wären dann nicht mehr möglich. Es ist ein perfektes Überwachungs- und damit auch Demotivierungsprogramm.
Gibt es also doch wieder eine Ärzteschwemme, von der wir noch nichts wissen? Haben wir etwas verpasst? Oder leben diese Krankenkassenfunktionäre in einem Paralleluniversum, jenseits der Realität?
Ihr Handeln würde Sinn machen, wenn es Unmengen von Ärzten gäbe, die keiner braucht. Das war aber schon damals nicht so und heute erst recht nicht. Fünftausend Hausarztstellen sind nicht besetzt. Selbst gut gehende Facharztpraxen finden nur noch schwer einen Nachfolger. Doch Kassen und Politik führen sich auf, als gäbe es auf dem Markt Unmengen arbeitssuchender Mediziner, mit denen man machen kann, was man will. Sie treiben die alten in den vorzeitigen Ruhestand und halten die jungen davon ab, an eine selbstständige Niederlassung als Arzt auch nur zu denken. Man könnte den Eindruck haben, das wäre genauso beabsichtigt.
DR. MATTHIAS SOYKA ist Orthopäde und Buchautor.
Aktuell im Buchhandel: „Dein Rückenretter bist du selbst“, Ellert&Richter / Hamburg
www.dr-soyka.de
Youtube Kanal „Hilfe zur Selbsthilfe“
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Matthias Soyka, Dr. Bernd Hontschik und Dr. Christine Löber.