"F"
Kolumne
von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen
Psychische Krankheiten – da rollen sich bei einigen ganz schnell die Nägel hoch, und die rationalen Hirnanteile schrumpfen auf Erbsengröße zusammen. Man weiß zwar im aktuellen Weltgeschehen gar nicht mehr genau, bei welchem Durchgeknalltheitsgrad die Grenze zwischen gesund und krank eigentlich ist, aber immerhin haben einige Leute eine sichere Zertifizierung fürs Irresein, nämlich durch eine F-Diagnose. Und von den F-Diagnosen gibt es wohl immer mehr.
Ein Großteil der Menschen weiß gar nicht, was das ist und wie man damit jetzt umgehen soll. In der Regel macht das aber auch nichts, denn die F-Leute geben sich sowieso nicht zu erkennen, und dann ist doch alles gut.
Für uns Ärzt:innen ist das auch alles kein Problem. Hatten wir doch im Studium mal Psychiatrie-Kurs und kennen dem Namen nach auch Citalopram. Patient:innen mit Psycho-Krankheiten sind für uns unproblematisch, denn – die Psychiater:innen sind in diesem Text konsequent nicht angesprochen – wir beschäftigen uns ja zum Beispiel mit dem Sprunggelenk und nicht mit Gemütslagen. Die Psycho-Patient:innen sind meist ruhig und freundlich und haben eine Liste mit Tabletten, von denen wir fast keine genauer kennen, weil auch diese Tabletten für uns ohne Relevanz sind.
Berührungsängste sind kaum merkbar, in vielen Fällen auch tatsächlich nicht vorhanden. Der Umgang mit F-Menschen ist in den allermeisten Begegnungen ehrlich neutral: Behandlung unterhalb der Blut-Hirn-Schranke erledigt, Entlassungsgespräch, Wiedersehen.
Aber wie ist das jetzt, wenn wir ein F im Kollegenkreis haben? Vor 20 Jahren hätte ich diesen Text keinesfalls geschrieben. Vor 20 Jahren war ich auch überzeugt, eigentlich gar nicht krank zu sein. Studium weggerockt, promoviert, unerklärliche Begebenheiten, und zack, steht man in einer Kleinstadt vor dem Haus der Psychotherapeutin und versteckt sich, damit das bloß niemand mitkriegt.
Ich weiß nicht, wie die ärztliche Ausbildung heute ist, aber ich bin noch so aufgewachsen und erzogen worden, dass man immer einfach durchhält. Nur die Harten kommen in die Endoskopie. Ich habe das nicht mal als besonders großes Leid empfunden, es war einfach selbstverständlich. Nicht rumheulen, nicht beklagen, einfach machen. Die Ablösung nach dem 24-Stunden-Dienst ist krank und keiner kommt? Dann eben weiterarbeiten.
Wir halten auch alles aus, Teerstuhl und Sterbebegleitungen, aus dem Schädel tropfende Gehirne. Wir müssen das auch aushalten, wie soll man den Beruf denn sonst machen. Hilfestellungen von außen, wie sie in vielen weit weniger zehrenden und verantwortungsvollen Berufen üblich sind, sind bei uns nicht vorgesehen. Wollen wir aber eigentlich auch nicht.
Balintgruppe? Ist für Loser, brauche ich nicht. Bloß nicht drüber reden, dass man in einer Situation was mit dem Unwort EMOTIONEN hatte (nämlich auf dem Klo geheult hat), das innere Weichei wird sofort wieder reingestopft.
Ein kleines bisschen sind wir vielleicht von Natur aus so, ein großes bisschen lernen wir das. Was ja auch durchaus Vorteile haben kann.
Wenn jetzt psychische Krankheiten so „auf dem Vormarsch“ sind, müssten wir in unserem Kreis ja auch diverse F-Menschen haben.
Kennen Sie F-Kolleg:innen? Ich habe einen recht großen ärztlichen Freundeskreis, ich kenne genau zwei. Mit mir drei.
Die kopfbesonderen Ärzt:innen erleben eine Reihe von Unwägbarkeiten, von denen viele natürlich zur gängigen Stigmatisierung gehören, einige aber recht berufsspezifisch sind.
Wir bewegen uns durchgehend auf einem sehr hohen Anspruchshaltungsniveau.
Wir SCHAFFEN Sachen. Andere müssen sich auf uns verlassen. Wir fehlen nie. Wir werden nicht krank, denn Krankheit ist Schwäche, und Schwäche darf es nicht geben. Das bezieht sich nicht nur auf den chefärztlichen Alpha-Egomanen, der immer 85 Stunden am Tag arbeitet, sondern genauso auf den Assistenten im zweiten Jahr.
Es dauert deshalb oft lange, bis man sich überhaupt selbst eingestehen kann, dass man krank ist. Und das Eingeständnis, dass auch noch der Kopf krank ist, der in der Krankheitsbewertung ja bei vielen eine völlig absurde Sonderrolle einnimmt, ist oft lange nicht hinnehmbar.
Dann arbeitet man lieber mit diesen widerlichen Symptomen, die bestimmt bald wieder weg sind. Und arbeitet am besten noch mehr und noch härter, damit man weit weg vom Auffallen kommt. Man spricht auch mit niemandem, denn was soll man denn da sagen? Wie soll man erklären, was das für Zustände sind, kein Mensch kann das verstehen. Ist doch sinnlos.
Gesunde Kolleg:innen kennen dem Namen nach zwar Citalopram, verlachen aber die eine Kollegin, die unter einer „Burnout“-Diagnose seit 6 Monaten nicht zur Arbeit kommt. Burnout gibt’s ja gar nicht, und wenn es das gäbe, würde man ja wohl damit zur Arbeit gehen. Ich habe in einer eigenen schweren Krankheitsphase genau so eine Kollegin im Kopf verlacht. Was willst du eigentlich, weißt du eigentlich, wie ICH zur Arbeit gehe, was ich hier wegrocke ohne dies Rumgeflenne? Ich habe ihr sehr empathisch zugehört und alles sehr gut verstanden. Und habe es gleichzeitig peinlich gefunden und verurteilt.
Die F-Kolleg:innen werden ganz heimlich zu Außenseitern. Medikamentennebenwirkungen aushalten, die Krankheit aushalten, und dazu noch jeden Tag eine fehlerfreie Bühnenshow abliefern. So sind sie, die Geisteskranken. Nicht besonders schwach.
Für die Mitleser:innen, die selbst krank sind: Haben Sie das mal jemandem erzählt?
Dann kennen Sie den kurzen Stopp beim Gegenüber, das kurze Sammeln, das Suchen nach Formulierungen, die man zu dieser Sache jetzt vielleicht sagen muss.
Bei der Sprunggelenksfraktur geht das so: „Ach was echt? Gibt’s doch nicht, und was ist da für Metall drin und wie lange Teilbelastung, krass, das tut mir voll leid, na wird schon, kann ich was helfen?“
Psycho-Krankheit: „Ah. Ähm. Okay, ja.“
Ich habe auch deshalb nie was erzählt, weil ich diese Reaktion nicht erleben wollte.
Dies Thema liegt mir persönlich am Herzen, ist für den ärztlichen Alltag aber meines Erachtens auch immens wichtig. Genau wie andere Kranke müssen auch die Kopfkranken offen und zugewandt in unseren ja durchaus freundlichen Kreis aufgenommen werden. Niemand muss Angst vor diesen Hirnnuancen haben, so spektakulär ist das auch alles nicht.
Und genau wegen dieser menschlichen Barrieren schreibe ich in der nächsten Kolumne noch ein bisschen mehr dazu.
DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.