»Evidenz statt Rationierung«
Interview
Neue Therapien, teure Medikamente: Prof. Josef Hecken erklärt, nach welchen Kriterien der Gemeinsame Bundesausschuss über den GKV-Leistungskatalog entscheidet – und wie das Gesundheitssystem sparen könnte, ohne den Anspruch auf Medizin mit nachgewiesenem Nutzen in Frage zu stellen.
Herr Prof. Hecken, ist der GKV-Leistungskatalog ein Sparkatalog? Bleiben nützliche Leistungen außen vor, weil sie zu teuer sind?
hecken: Nein. Die GKV ist keine Schmalspur-Krankenversicherung. Im Gesetz steht, dass die Versicherten Anspruch auf ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungen haben. Und „ausreichend“ bedeutet hier nicht wie bei Schulnoten, dass gerade mal die Mindestanforderung erreicht wird. Sondern das Bundessozialgericht sagt: Ausreichend ist eine Leistung, die dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und dem medizinischen Fortschritt entspricht. Das lässt sich am besten anhand der Arzneimittelversorgung erklären: Jeder neue Wirkstoff wird im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit der etablierten Standardtherapie verglichen – nicht wegen der generellen Verordnungsfähigkeit, sondern als Basis für Preisverhandlungen. Denn: Neu ist nicht automatisch besser und teurer ist nicht automatisch gut. Aber wenn ein patientenrelevanter Vorteil gegenüber der etablierten Standardtherapie anhand von Studien nachgewiesen werden kann, hat der Hersteller in den Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband eine gute Ausgangssituation. Nehmen Sie als Beispiel den Onkologiebereich: Die neuen Onkologika machen gerade mal 1,2 Prozent der Rezepte aus, verursachen aber rund 20 Prozent der Ausgaben für Arzneimittel. Oder nehmen Sie als Beispiel teure Gen- und Zelltherapien gegen seltene Leiden, deren Jahrestherapiekosten schnell im sechs- oder gar siebenstelligen Bereich liegen können. Auch das wird selbstverständlich bezahlt. Daran sehen Sie: Bei der Frage, ob eine Leistung von der GKV grundsätzlich bezahlt wird, ist der Nutzen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entscheidend. Hinzu kommt die Frage nach der Wirtschaftlichkeit. Dabei wird geklärt, ob der gleiche Nutzen mit einer kostengünstigeren Methode erreicht werden kann.
Über die Aufnahme von Leistungen in den GKV-Katalog beschließt der G-BA. Wie läuft das Verfahren konkret ab? Wer schlägt vor, welche Leistungen geprüft werden?
hecken: Der G-BA ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung auf Bundesebene. Antragsberechtigt für die Prüfung einer neuen Leistung und stimmberechtigt sind Vertreterinnen und Vertreter der Krankenkassen, der Ärzte- respektive Zahnärzteschaft sowie der Krankenhäuser – und die drei unparteiischen Mitglieder, zu denen ich als unparteiischer Vorsitzender gehöre. Ein Antrags- und Mitberatungsrecht, aber kein Stimmrecht hat auch die Patientenvertretung. Grundsätzlich gilt das Prinzip: Im Krankenhaus ist – vereinfacht gesagt – alles erlaubt, bis es von uns ausgeschlossen wird. Im ambulanten Bereich ist es andersherum: Neue Untersuchungs- und Behandlungsverfahren sind keine Leistung, bis wir sie erlauben. Wenn es um die ambulante Versorgung geht, bekommen wir üblicherweise einen Antrag aus der Ärzteschaft oder von der Patientenvertretung mit der Bitte, eine neue Leistung oder Methode zu prüfen.
Stellen auch die Krankenkassen solche Anträge? Die müssten das am Ende ja bezahlen …
hecken: Ja, auch die Krankenkassen stellen Anträge auf Leistungseinschlüsse. Die Kostenträger haben ein elementares Interesse daran, dass beispielsweise Krankheiten möglichst früh erkannt werden oder Operationen unproblematisch verlaufen. Denn das spart langfristig Kosten.
Wer prüft die Evidenz?
Hecken: Die Bewertung der Arzneimittel und der Methoden wird in der Regel durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführt. Für die Qualitätsanforderungen ist in vielen Fällen das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) zuständig. Beide sind mit dem G-BA strukturell eng verbunden, in ihrer wissenschaftlichen Arbeit jedoch unabhängig.
Am Ende entscheidet aber der G-BA. Wie läuft das ab? Gibt es oft Meinungsverschiedenheiten zwischen den im G-BA vertretenen Gruppen?
hecken: Nein. In über 90 Prozent der Fälle fallen die Entscheidungen einvernehmlich, weil die Evidenzlage anhand von Studien so eindeutig ist. Wenn aber beispielsweise die Leistungserbringer eine Leistung einschließen wollen, die Kassen aber dagegen sind, kann durch die Stimmverteilung im G-BA eine Mehrheitsentscheidung fallen. In diesen Fällen habe ich die entscheidende Stimme.
Könnte man sagen, dass alle GKV-Leistungen auf ihren Nutzen geprüft sind? Ist das in dieser Pauschalität korrekt?
hecken: So pauschal stimmt das leider nicht. Die starke Evidenzausrichtung gibt es erst seit der Gründung des G-BA im Jahr 2004. Der GKV-Leistungskatalog existierte aber bereits davor. Das zeigen auch die EBM-Ziffern, die die Partner des Bundesmantelvertrags vereinbaren: Es gibt viele Leistungen, die schon seit Jahrzehnten enthalten sind oder bei denen es sich um eine Fortentwicklung bestehender Verfahren – und eben nicht um neue Methoden – handelt. Die wurden bei ihrer Einführung nicht alle nach den heutigen Maßstäben einer evidenzbasierten Medizin geprüft.
Werden manchmal Leistungen wieder aus dem Katalog gestrichen?
hecken: Ja. Das war beispielsweise kürzlich bei Biomarker-Tests der Fall, welche die Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie bei Brustkrebs in einem frühen Stadium erleichtern sollen. Da haben wir in diesem Jahr einige der Tests, die bisher bezahlt wurden, aus der Versorgung wieder ausgeschlossen, weil sich in Studien herausgestellt hatte, dass sie ein Rezidivrisiko nicht präzise und sicher genug vorhersagen.
Kann man sagen, dass der GKV-Bereich stärker von der evidenzbasierten Medizin geprägt ist als der Privatbereich? Ist das ein Vorteil, den man als GKV-Patient gegenüber einem Privatpatienten hat?
hecken: Ja, dem würde ich zustimmen. Trotz aller Nachteile, die man möglicherweise als GKV-Patient bei der Terminvergabe hat, sage ich aus voller Überzeugung: Der Leistungskatalog, den wir in der stationären und vertragsärztlichen Versorgung haben, spiegelt den Stand der medizinischen Erkenntnisse wider. Vieles, was darüber hinaus angeboten wird, ist im Einzelfall vielleicht „nice to have”, hat aber keinen echten medizinischen Mehrwert. Das Phänomen zeigt sich beispielsweise im Bereich der Früherkennung. Ambulant können neue Methoden erst dann abgerechnet werden, wenn sie nach aktueller Studienlage auch wirklich nützlich und unbedenklich sind – das gilt auch für Methoden im Bereich der Früherkennung. Es gibt Leistungen, die zuerst im Privatbereich angeboten und mit zeitlicher Verzögerung dann auch in den GKV-Katalog aufgenommen werden – nämlich erst nach eingehender und positiver Prüfung.
Wie lange wird die GKV noch jede kostenintensive Leistung bezahlen können, sofern sie nachgewiesenermaßen nützlich ist? Wird sich der G-BA nicht angesichts des demographischen Wandels bald mit Fragen der Priorisierung und Rationierung auseinandersetzen müssen?
hecken: In anderen Staaten wie zum Beispiel in Großbritannien sind die Gesundheitsleistungen streng rationiert und an sogenannte QALYs, qualitätskorrigierte Lebensjahre, gebunden. Dort ist man bereit, pro gesundem Lebensjahr einen bestimmten Betrag auszugeben – alles, was teurer ist, wird dann nicht mehr bezahlt. Das möchte ich auf keinen Fall für Deutschland. Daher fordere ich einen noch viel konsequenteren Evidenzbezug. Alleine durch die frühe Nutzenbewertung von patentgeschützten Arzneimitteln werden pro Jahr etwa zehn Milliarden Euro eingespart. Die vom G-BA vorgenommene Prüfung des patientenrelevanten Zusatznutzens ist die Basis für Preisverhandlungen zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Hersteller. Das Ergebnis der G-BA-Prüfung ist damit ein sehr wichtiger Schritt: Wenn kein Zusatznutzen festgestellt wird, orientiert sich der Preis, mit dem der Hersteller rechnen darf, an den Kosten für die zweckmäßige Vergleichstherapie, oder er liegt sogar darunter. Wir haben Gott sei Dank die Situation, dass trotz gedeckelter Preise relativ wenig pharmazeutische Unternehmen aus dem Markt gegangen sind. Denn in Deutschland sind etwa 90 Prozent neuer zugelassener Arzneimittel verfügbar und das auch noch sehr schnell, nämlich nach 56 Tagen. Der EU-Durchschnitt liegt bei 540 Tagen nach der Zulassung. Um es in Bezug auf Ihre Frage klar zu sagen: Generelle Rationierungen oder Priorisierungen medizinischer Leistungspakete sind Entscheidungen des Gesetzgebers. Ein Beispiel dafür ist der Ausschluss von nichtverschreibungspflichtigen Arzneimitteln oder Brillen aus dem Leistungskatalog. Der G-BA wird in solchen Fällen beauftragt, Ausnahmen oder Details zu definieren, maßgeblich ist aber immer der gesetzliche Rahmen.
Was könnte die GKV zusätzlich entlasten?
hecken:
Es gibt noch große Optimierungspotenziale. Bei der Arzneimittelversorgung sehe ich Möglichkeiten durch sogenannte kohortenspezifische P4P-Verträge, bei denen sich der Preis am Therapieerfolg ausrichtet. Wir brauchen dringend eine bessere Patientensteuerung. Aber auch Selbstbeteiligungsmodelle dürfen keinem Gedankenverbot unterliegen – ich denke da beispielsweise an eine sozial ausgewogene höhere Zuzahlung für Medikamente oder Krankenhausaufenthalte und auch an eine Praxisgebühr, die allerdings nicht pro Quartal, sondern pro Arztbesuch entrichtet werden sollte. Es muss für die Patientinnen und Patienten wieder spürbar werden, dass die medizinische Versorgung wertvoll ist und mit Bedacht genutzt werden sollte. Die Selbstbeteiligung muss aber am unteren Kostenrand ansetzen. Eine onkologische Behandlung, die 400.000 Euro kostet, kann kaum jemand selbst bezahlen. Da braucht man die volle Solidarität der GKV. Und noch ein Vorschlag: Wie wäre es, wenn man die Tabaksteuer verdoppelt – und dieses Geld als Zuschuss ins Gesundheitssystem einfließen lässt? Es ist bekannt, dass ich ein Raucher bin. Eine solche Regelung würde also auch mich treffen. Das empfinde ich aber als richtig, denn damit leiste ich als Raucher meinen persönlichen Beitrag zur Konsolidierung des Gesundheitssystems. Auch Alkohol oder Zucker sollten stärker besteuert werden. Wir haben ja beispielsweise die schwer zu erklärende Situation, dass Schokolade als Lebensmittel mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent belegt ist. Für die Arzneimitteltherapie von Patientinnen und Patienten, die vielleicht aufgrund einer falschen Ernährung an verengten Herzkranzgefäßen und Diabetes leiden, muss die GKV jedoch 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlen. Sie sehen, wir könnten also noch einiges tun, um das Gesundheitssystem zu entlasten – lange bevor wir über die Rationierung von Leistungen sprechen müssen.
Interview: Martin Niggeschmidt