"F II"
Kolumne
von Dr. Christine Löber, HNO-Ärztin in Hamburg-Farmsen
Anknüpfend an meine letzte Kolumne zur Unbeholfenheit mit F-Menschen im Kolleg:innenkreis möchte ich heute zu diesem sehr relevanten Thema ein paar praktische Hinweise geben.
Die erste große (und per se unüberwindliche) Hürde ist eine annähernd reale Vorstellung der psychischen Krankheit, die man da vor sich hat. Offensichtlich geht das aber gar nicht so richtig, denn es ist uns – vielleicht glücklicherweise – nicht möglich, in fremde Köpfe zu gucken. Fremde Köpfe, die in einigen Bereichen noch ganz anders funktionieren als der eigene, sind eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Genauso ist es natürlich andersherum. Jemand mit einer psychischen Besonderheit kann sich schwer vorstellen, wie so ein durchschnittlicher „gesunder“ Kopf sich anfühlt.
Und im Wesentlichen geht es ja darum: Gefühle. Aber eben keine labberigen Liebes- oder Drama-Gefühle, sondern um Sorten, die aus schwer zugänglichen zerebralen Untiefen auf den Hirneigner hereinbrechen.
Diese Gefühle, die das Leben eigentlich immer grundlegend verändern, sind selbst für die Erkrankten manchmal nicht mit Wörtern zu erklären. Ich habe für ein permanentes, diffuses Angstgefühl, das mich seit der Jugend begleitet hat und jahrzehntelang Normalität war, das englische Wort „doom“ benutzt, weil ich keinen treffenden Begriff für dieses lauernde Unwohlsein hatte. Wohlgemerkt habe ich erst begonnen, dies Wort zu benutzen, als dies Gefühl zufällig medikamentös mitbeseitigt wurde. Bis dahin wusste ich nicht, was Glück wohl ist. Als ich es wusste, habe ich angefangen zu weinen. Das ist wenige Jahre her. Insofern kann diese Emotionswelt im Kopf auch für die psychisch Anderen oft verwirrend sein.
Nun ein Ausflug in die Welt des F-Kollegens. Ich nehme der Einfachheit halber eine Krankheit, die mich auch häufig heimsucht, die von der Verpackung her unfassbar langweilig und nervtötend wirkt, und auch ich rolle intuitiv mit den Augen, wenn jemand von seinem unendlichen Leid mit der DEPRESSION berichtet. Nota bene, ich kenne diese Krankheit in allen ihren Facetten und weiß, dass das in jeder Hinsicht die Hölle auf Erden ist (ich finde normalerweise nicht viele Dinge schlimm).
Depression klingt nach AU-Verlängerung, starren Blicken auf Sofas, unnötigem Rumgeheule und dem Wollen zum Nichtwollen.
Der Wecker des Kollegen klingelt um 6, er ist aber seit halb 5 wach und hat panische Angst. Vor allem. Vor dem Aufstehen, vor dem Weg zur Arbeit, der nicht bewältigbar zu sein scheint, vor der Arbeit. Ihm ist übel. Er kann sich nicht krankmelden. Er kann sich nicht hinsetzen im Bett zum Aufstehen. HF 300/min. Im Kopf ist nichts. Vor zwei Wochen wurde ihm das weggenommen, als hätte jemand alles ausgemacht und eine verlassene Welt dagelassen. Er weiß, dass er krank ist, er ist ein vorbildlicher Patient. Zwei Psychotherapien immer pünktlich beim Psychiater, immer alle Tabletten genommen. Er weiß, dass ihn der Kopf belügt und dass das alles so nicht stimmt. Aber zu diesem Wissen gibt es kein Gefühl, es gibt ja nichts mehr.
Er sitzt auf der Bettkante und kann nicht aufstehen. Die Kopflähmung ist natürlich auch eine Körperlähmung. Wo nichts mehr ist und nichts mehr entsteht, kann auch nichts weitergegeben werden. Er hat solche Angst. Er würde weinen, wenn es ginge, aber Weinen ist so anstrengend, dass es nicht geht. Venlafaxin 300.
In der Frühbesprechung ist alles wie immer. Er kommt in den Raum, grinst, sagt „Moin, Digga“ zu seiner Kollegin, die lacht und fragt, ob er bescheuert sei. Er lacht laut und sagt „ja“. Sie gehen in der Gruppe auf Station, er geht kurz ganz hinten und ruht sein Gesicht aus, bis jemand sich umdreht, dann macht er wieder Quatsch. Lustigster Kollege, war er schon immer. Er ist so müde, er schläft ja auch kaum. Zolpidem sine effectu. Die anderen gehen hoch, er sagt, er raucht noch. Sein Kollege sagt, „Da mach ich dann wohl mit!“ Etwas in ihm fällt zusammen, er hätte diese Pause gebraucht.
Arbeit hilft immer ein bisschen. Er weiß das, deswegen versucht er, immer hinzugehen, auch wenn er nicht hingehen kann. Dann fährt er Auto. Er ist so langsam. Es wird nie aufhören. Er will sich jedes Mal umbringen, „Das nächste Mal mache ich das nicht mehr“. Heute morgen hat er sich den Rasierer angeguckt. Aber wenn es wieder weg ist, geht es ja. Dann macht er es doch wieder mit und irgendwann wird er sich umbringen, das weiß er.
Er ist trotzdem froh, als die Arbeit zu Ende ist, und er zurück in den Horror alleine kann.
Wir sehen die F-Krankheiten meistens nicht, was nicht gut ist, aber auch nicht unsere Schuld. Wir sollen sie ja auch nicht sehen. Für unseren Beruf ist an diesem Versteckspiel nichts gut. Am Beispiel des Kollegen: Was wäre, wenn er das sagen könnte, und das Kollegium sagen würde, „Alles klar, was meinst du, KANNST du machen?“ Das Arbeiten mit einer psychischen Krankheit ist vordergründig schwierig. Kann so jemand überhaupt arbeiten oder ist er eine Gefahr für alle anderen?
Viele psychische Erkrankungen haben weniger mit richtig/falsch zu tun als mit schnell/langsam. Man kann durchaus in depressiven Phasen arbeiten, muss nur wissen, dass es langsamer geht. Noch günstiger ist, wenn die anderen das auch wissen und man Aufgaben entsprechend einteilen kann. Eine geschulte Selbsteinschätzung ist wichtig. Man kann auch manisch/hypoman arbeiten, wenn man sicher weiß, dass man nur sehr schnell ist und nicht das Krankenhaus kaufen will. Und ja, individuell können diese Sachen gut einschätzbar sein.
Der Kollege mit der Panikstörung ist im Moment vielleicht nicht der Richtige für einen großen Vortrag. Genau wie „somatische“ (als wäre das Gehirn was anderes als ein Körperteil) Krankheiten häufig gut in den Arbeitsalltag integriert werden können, kann das auch mit den F-Besonderheiten geschehen. Offensichtlich bleibt der Umgang mit diesen Dingen aber so schwierig, dass sogar in einem Berufsstand, der permanent mit Krankheiten zu tun hat, keine vernünftige Entstigmatisierung zu erzielen ist. Das ist auch insofern schade und problematisch, als dass man die betroffenen Kolleg:innen viel gezielter einsetzen und – ohne zu romantisieren – manche Aspekte der Erkrankungen sogar recht klug nutzen könnte. Eine gut eingestellte hypomane Manikerin erledigt fokussiert drei Stationen, wo Gesunde eine schaffen. Der depressive Kollege erledigt in Ruhe alle MD-Anfragen und Entlassungsbriefe, Schreibkram fertig. In beiden verkürzten Beispielen profitieren alle.
Ich hoffe, Ihnen einen kleinen Einblick in die Welt der Verrückten (ich habe das Wort immer als positiv empfunden) gegeben zu haben, es gäbe natürlich noch viel mehr zu sagen und zu diskutieren.
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir als Mediziner:innen ein fortschrittlich-positives Beispiel im Umgang mit allen Krankheiten werden könnten.
Und zuletzt: Bleiben Sie alle ein bisschen verrückt.
DR. CHRISTINE LÖBER ist HNO-Ärztin und Buchautorin.
Aktuell im Buchhandel: „Immer der Nase nach“ (zusammen mit Hanna Grabbe), Mosaik Verlag / Hamburg
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Christine Löber, Dr. Matthias Soyka und Dr. Bernd Hontschik.