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Soziale Isolation und Einsamkeit im Alter

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Welche Maßnahmen können einer sozialen Isolation vorbeugen oder entgegenwirken?

Von Dr. med. Dagmar Lühmann im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. (www.ebm-netzwerk.de)

Existieren wirksame Maßnahmen zur Vorbeugung und Reduzierung vorhandener sozialer Isolation? Diese Frage stellte 2020 ein:e Bürger:in auf der ThemenCheck-Medizin-Plattform des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG).

Die Frage war motiviert von der Besorgnis, dass soziale Isolation - im Alter ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen - mit negativen Folgen für die mentale und körperliche Gesundheit einhergeht.

Vom IQWIG wurde diese Fragestellung als Thema für eine umfassende Bewertung, ein so genanntes Health Technology Assessment (HTA), ausgewählt. Umfassende HTA-Berichte bewerten Gesundheitstechnologien mit wissenschaftlichen Methoden systematisch aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Kern stehen die Bewertung des gesundheitlichen Nutzens und Schadens und der Kosten bzw. des Kosten-Nutzen-Verhältnisses der Technologie. Gleichzeitig wird analysiert, welche ethischen, sozialen, organisatorischen und rechtlichen Implikationen mit dem Technologiegebrauch zu beachten sind.

Zunächst einmal der gesundheitliche Nutzen und Schaden: Hierfür wurde für eine systematische Literaturübersicht nach randomisierten kontrollierten Studien recherchiert, die Maßnahmen zur Vorbeugung bzw. Bekämpfung von sozialer Isolation im Hinblick auf gesundheitsrelevante Zielgrößen evaluiert haben. Es wurden nur solche Studien berücksichtigt, die in der eigenen Häuslichkeit lebende Proband:innen über 60 Jahre einschlossen.

Insgesamt wurden 14 Studien gefunden, die zwischen 1991 und 2020 publiziert wurden. Je drei Studien stammten aus Finnland und den USA, je zwei Studien aus Großbritannien und Japan und je eine Studie aus China, Kanada, den Niederlanden und Israel. Sieben Arbeiten fokussierten auf die Prävention von sozialer Isolation und Einsamkeit bei gefährdeten Individuen, sieben weitere auf die Bekämpfung bei bereits Betroffenen.

Aus studienmethodischer Sicht wiesen alle Studien erhebliche Mängel auf, sodass das Risiko verzerrter Ergebnisse als hoch betrachtet werden musste. Die in den Studien angebotenen Interventionen waren sehr heterogen und wurden zum Teil von freiwilligen Helfern, zum Teil von professionellem Personal aus dem Gesundheits- oder Sozialbereich umgesetzt.

Von Freiwilligen umgesetzt wurden Hausbesuchsprogramme (N=3 Studien), Telefonkontakte (N=2 Studien), Computer- und Internetschulung (N=1 Studie) und ein Tai-Chi-Sportprogramm (N=1 Studie).

Bei den professionell geleiteten Interventionen handelte es sich ausschließlich um Gruppenangebote. In drei Studien standen dabei Freizeitaktivitäten und das soziale Miteinander im Mittelpunkt, zwei Studien verwendeten einen gruppentherapeutischen Ansatz zur Stärkung sozialer Kompetenzen und Ressourcen und zwei Studien verbanden therapeutische Ansätze mit Beratung und Freizeitgestaltung.

Statistisch signifikante und klinisch relevante positive Effekte konnten nur in vier der 14 Studien nachgewiesen werden: Mit einer gruppentherapeutischen Intervention über sieben Monate gelang es, präventiv die soziale Unterstützung zu verbessern; ein weiteres gemischtes Gruppenprogramm erzielte positive Effekte im Hinblick auf Mortalität und den selbstberichteten Gesundheitszustand, und zwei von Freiwilligen umgesetzte Besuchsprogramme wirkten sich positiv auf Befindlichkeit und Lebenszufriedenheit der Zielgruppe aus.

Letztendlich bleibt die Interpretation der Ergebnisse schwierig, aus studienmethodischen Gründen, aber auch weil – mit einer Ausnahme – in den Publikationen keine systematischen Prozessevaluationen berichtet wurden. Erklärungsmöglichkeiten, warum die Interventionen erfolgreich oder nicht erfolgreich waren, lassen sich damit aus den Studienpublikationen kaum ableiten.

Für die gesundheitsökonomische Bewertung wurden zum einen eine systematische Literaturübersicht über Kosten-Nutzen-Studien erstellt und zum anderen die Interventionskosten beschrieben. In den Literaturrecherchen wurden nur zwei gesundheitsökonomische Evaluationen aufgefunden, die sich beide auf Studien bezogen, die auch in der Nutzenbewertung betrachtet wurden.

Für ein in den Niederlanden umgesetztes Besuchsprogramm durch Freiwillige fanden sich weder hinsichtlich des Nutzens noch hinsichtlich der Kosten Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Für das gemischte gruppentherapeutische Programm einer finnischen Arbeitsgruppe, welches positive Effekte auf Mortalität und Gesundheitszustand gezeigt hatte, wurde auch ein Kosteneinsparpotenzial von ca. 1100 Euro pro Person und Jahr zugunsten der Interventionsgruppe nachgewiesen. Dieses war durch eine verminderte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bedingt.

Die Kostenschätzungen auf der Grundlage der Daten in den Publikationen ergaben, dass ein Programm mit 10 bis 12 Hausbesuchen durch Ehrenamtliche Kosten von etwa 250 bis 400 Euro pro Person verursacht. Ein dreimonatiges, professionell geleitetes Gruppenangebot mit wöchentlichen Aktivitäten wie Bewegung, Kunst oder therapeutisches Schreiben (analog zum finnischen Programm) würde bei einer Gruppengröße von 7 bis 9 Personen etwa 440 Euro pro Person kosten.

Die Analyse der ethischen, sozialen/organisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung von Maßnahmen gegen soziale Isolation und Einsamkeit stützt sich auf fokussierte Literaturrecherchen, Durchsicht von Gesetzestexten und Gespräche mit Betroffenen sowie mit Leistungserbringern im Sozialbereich.

Eine zentrale Feststellung war, dass soziale Isolation und Einsamkeit für sich keinen Krankheitswert haben, sondern vor allem als soziales Phänomen und Problem wahrgenommen werden. Übereinstimmend wird allerdings die fehlende Teilhabe mit gesundheitlichen Einschränkungen in Verbindung gebracht, die die Morbidität und die Mortalität erhöhen.

Für die Umsetzung von Maßnahmen gegen soziale Isolation und Einsamkeit bei älteren Menschen werden eine Reihe von konkreten Herausforderungen identifiziert: die Notwendigkeit, über multiple Wege der Bekanntmachung die Zielgruppe der sozial isoliert lebenden bzw. einsamen älteren Menschen auch tatsächlich zu erreichen; die Sicherstellung der Nachhaltigkeit von Maßnahmen, die über eine Projektförderung hinaus Bestand haben müssen; die inhaltliche Ausgestaltung von Maßnahmen und ihre Adaptation an besondere Bedarfe und Bedürfnisse der Zielgruppen.

Aus sozialrechtlicher Perspektive sind bereits mehrere Einbindungsmöglichkeiten für Maßnahmen gegen soziale Isolation und Einsamkeit vorhanden, z. B. in der Altenhilfe (SGB XII), für pflegebedürftige Menschen bei der gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI) und, mit präventivem Schwerpunkt, bei der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V). Insbesondere in der Altenhilfe werden bereits verschiedene Maßnahmen gegen soziale Isolation und Einsamkeit im Alter umgesetzt, wie Freiwilligenbesuchsdienste und professionell betreute Gruppenangebote. Dabei wäre eine stärkere Verzahnung von Strukturen der Altenhilfe mit Kranken- und Pflegekassen wünschenswert.

Zusammengenommen weisen die Ergebnisse des HTA auf die Notwendigkeit hin, auf der Grundlage der vielfältigen Vorarbeiten, valide und bedarfsadaptierte Konzepte zur Vorbeugung und Reduktion sozialer Isolation und Einsamkeit bei älteren Menschen zu entwickeln und zu überprüfen.

Für Interventionsmodelle kann auf die Vorarbeiten der hier analysierten Studien zurückgegriffen werden, vorzugsweise von solchen, die wenigstens in einem Teil der betrachteten Endpunkte Vorteile zu Gunsten der Interventionsgruppen erzielen konnten.

Die Anpassung des Modells an die Präferenzen und Bedürfnisse der Betroffenen sowie Kompetenzen und Ressourcen von Dienstleister:innen und Ehrenamtlichen kann sich an die herausgearbeiteten An- und Herausforderungen aus ethischer, sozialer, organisatorischer und rechtlicher Sicht orientieren und auch eine realistische und für den deutschen Kontext valide Kostenschätzung umfassen.

Die Effektivität ist in einer randomisierten kontrollierten Studie zu überprüfen, die gleichermaßen Wert auf Prozessevaluation und die Bestimmung von Nutzen und Schaden legt.

Eine transparente Dokumentation aller Schritte stellt Nachvollziehbarkeit des Vorgehens und Interpretation der Ergebnisse sicher – die dann eine Grundlage für weitere Überlegungen zur rechtlichen Einbettung und Schaffung eines Leistungsanspruchs bilden können.

DR. MED. DAGMAR LÜHMANN
Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Kontakt: EBM-Netzwerk
kontakt@ebm-netzwerk.de
Tel: 030 / 308 336 60

Literatur:

S. Butz, Hügel MG, Kahrass H, Kloppe T, Lühmann D, Mertz M, Muche-Borowski, C, Neumann A, Neusser S, Otto I, Ruppel T, Scherer M: Soziale Isolation und Einsamkeit im Alter: Welche Maßnahmen können einer sozialen Isolation vorbeugen oder entgegenwirken? HT20-03, IQWIG Berichte – Nr. 1459. 2022 https://www.iqwig.de/sich-einbringen/themencheck-medizin/berichte/ht20-03.html. Zugriff am 23.11.2023