Übersterblichkeit in der Pandemie
Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin
Wie valide sind die Vergleiche Deutschland versus Schweden?
Von Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (www.ebm-netzwerk.de)
Aus Deutschland kam Einspruch. Die Analysen der WHO könnten nicht korrekt sein. Demnach wäre die pandemiebedingte Übersterblichkeit in Deutschland höher als in Schweden. Schließlich wurde das schwedische Management der Pandemie in Deutschland durch Politik und Medien überwiegend abgelehnt. In Schweden gab es weder Lockdowns noch generelle Schulschließungen.
Die WHO veröffentlichte ihre lang erwarteten Auswertungen zur Gesamtsterblichkeit in der Pandemie erstmals im Mai 2022 (1). Und tatsächlich hat sie diese nur wenige Wochen später, auch infolge der Kritik aus Deutschland, revidiert (2). Die Wissenschaftler der WHO änderten ihr methodisches Verfahren, wodurch sich die Schätzwerte für Deutschland um 37% reduzierten und für Schweden um 19% erhöhten. Die Übersterblichkeit für Deutschland bleibt dennoch etwas größer als für Schweden (siehe Grafik).
Schon im März 2022 publizierte das LANCET eine weltweite Auswertung einer internationalen Arbeitsgruppe zur Übersterblichkeit in der Pandemie (3). Auch hier schnitt Deutschland schlechter ab als Schweden. Die Kernaussage der LANCET-Publikation war jedoch, dass in vielen Ländern die Übersterblichkeit deutlich höher ist als die berichteten COVID-19-Todesfälle. Dies sollte insbesondere auch für Deutschland gelten. Allerdings gab es an dieser LANCET-Studie ebenfalls erhebliche Kritik. Gerade die Berechnungen für Deutschland wären nicht plausibel. Sie widersprechen den offiziellen Daten des Deutschen Statistischen Bundesamtes (DESTATIS). Auch für weitere Länder ergeben sich auffällige Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen Publikationen. Es stellt sich also die Frage, wie verlässlich die aktuellen Ergebnisse zur Übersterblichkeit in der Pandemie sind.
Übersterblichkeit versus Covid-19-assoziierte Todesfälle
In den ersten zwei Jahren der Pandemie lag der Fokus auf den Covid-19-Sterberaten. Sie wurden für Vergleiche zwischen Ländern und Regionen herangezogen. Die Erfassung von Covid-19-Todesfällen bleibt jedoch störanfällig. Zudem können sich direkte und indirekte Effekte des Infektionsmanagements auf die Sterbezahlen auswirken. Beispielsweise gab es keine Grippewellen. Andererseits fehlen weiterhin belastbare Studiendaten zu den möglichen Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen in der stationären und häuslichen Altenpflege. Deshalb ist es sinnvoll, für eine Gesamtbilanz alle Todesfälle zu analysieren.
Wie berechnet die WHO Übersterblichkeit?
Übersterblichkeit wird definiert als Differenz zwischen der Gesamtzahl der Todesfälle während der Pandemie und der Anzahl an Todesfällen, die entsprechend der Vorjahre zu erwarten gewesen wäre, hätte es keine Corona-Pandemie gegeben.
Datengrundlage sind nationale Register. In Deutschland werden die Totenscheine durch die Gesundheitsämter ausgewertet und die Todesursachen nach ICD kodiert. Das DESTATIS sammelt und analysiert die Daten. Während der Pandemie hat das DESTATIS wöchentlich vorläufige Mortalitätszahlen veröffentlicht und ältere laufend aktualisiert (4). Dennoch liegen vollständige Daten oft erst Monate später vor. So ist die Todesursachenstatistik aktuell bis 2020 verfügbar.
Die verzögerte Datenlieferung aus den verschiedenen Ländern ist aber nur ein Grund für unsichere und diskrepante Ergebnisse zur Übersterblichkeit während der Pandemie. Im Wissenschaftsjournal NATURE erläutert der verantwortliche Statistiker des WHO-Berichts (1), welche Probleme es bei der Analyse von Daten zur Übersterblichkeit gibt (2).
Warum gibt es so unterschiedliche Ergebnisse?
Ein entscheidender Faktor für die Berechnung der Übersterblichkeit ist die Wahl der Periode vor der Pandemie, die zum Vergleich der Daten während der Pandemie herangezogen wird. Ein weiterer methodischer Streitpunkt ist die Wahl des Modells zur Schätzung der erwarteten Todesfälle unter der Annahme, dass es keine Corona-Pandemie gegeben hätte. Für die Vorhersage der Sterbefallzahlen kann man entweder eine lineare oder eine polynome mathematische Funktion verwenden. Für die ursprüngliche WHO-Analyse hatte man die komplexere polynome Variante gewählt (1). Dieses Modell reagiert aber empfindlich auf Schwankungen in einzelnen Jahren. Aufgrund einer außergewöhnlich starken Grippewelle in 2017/18 lag die Sterbefallzahl in Deutschland 2019 relativ niedrig. Das Modell leitete hieraus fälschlicherweise ab, dass die Sterbefälle 2020 noch weiter abnehmen würden. Andere Forschergruppen bevorzugen lineare Modelle, die über die Mittelwerte der Sterbefallzahlen aus den zurückliegenden Jahren extrapolieren und robuster gegenüber Ausreißerjahren sind. In ihren neuen Berechnungen hat die WHO nun ein lineares Modell benutzt, was Deutschland eine niedrigere Übersterblichkeit zuschreibt (2).
Im Rahmen der Revision des WHO-Modells wurde zudem ein zweiter relevanter Fehler entdeckt. Die Todesfallzahlen, die das Forscherteam der WHO für Deutschland nutzte, stimmten nicht mit jenen des DESTATIS überein. Die Diskrepanz betraf nicht nur die Daten für 2020/2021, sondern auch für den historischen Vergleich der Jahre 2015-2019. Die WHO-Gruppe hatte die rohen Daten adjustiert, um fehlenden und falschen Daten Rechnung zu tragen, was bei Ländern mit lückenhafter Todesursachenstatistik sinnvoll ist. Offen bleibt aber, warum derartige Datenmanipulationen für Deutschland durchgeführt wurden, obwohl hier von reliablen Mortalitätsstatistiken auszugehen ist (2).
Die WHO-Modellierer haben ihre Fehler erkannt und wollen auch die Daten aus anderen Ländern überprüfen. Auf der Website der WHO wurden die Analysen aus Mai 2022 noch nicht aktualisiert. Dies soll im Laufe des Jahres erfolgen (2). Hilfreich wäre es, wenn dann auch die Altersstruktur der Bevölkerung in den Analysen mitberücksichtigt wird. Denn nur so lassen sich valide Vergleiche zwischen Ländern mit eher älterer und eher jüngerer Bevölkerung bewerkstelligen.
Stand Juli 2022
Die bisherigen Analysen der WHO (1) und die LANCET Arbeit (3) haben das Jahr 2022 noch nicht berücksichtigt. Laufend aktualisierte Daten zur Übersterblichkeit finden sich auf der Website von Our World Data. THE ECONOMIST liefert hier Ergebnisse einer weiteren weltweiten Auswertung zur Übersterblichkeit in der Pandemie (5). Zur Schätzung der Mortalitätsentwicklung wird ein sogenanntes selbstlernendes Programm benutzt. Mit Stand 19. Juli 2022 beträgt die geschätzte kumulative Übersterblichkeit für Deutschland 157, für Schweden 126, für Österreich 226 und für die Schweiz 173 zusätzliche Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Mehr Aufmerksamkeit müsste es für die Bilanzen unserer osteuropäischen Nachbarn geben. So wird für Bulgarien eine Übersterblichkeit von 1041/100.000 genannt.
Fazit
Obwohl Sterbefälle die aussagekräftigsten Parameter zur Bewertung von Pandemiemaßnahmen sind, bleiben Auswertungen zur Übersterblichkeit unsicher. Selbst Analysen renommierter Wissenschaftler müssen revidiert werden. Die statistischen Modelle zur Prognose der Todesfälle ohne Pandemie sind störanfällig und manipulierbar. Je nachdem welche Referenzgrößen und Adjustierungen gewählt werden, können sich Ergebnisse relevant verändern.
Schließlich müsste eine abschließende Bewertung des Pandemiemanagements im Sinne einer Nutzen-Kosten-Bilanzierung neben den Mortalitätsdaten auch die monetären und nicht-monetären Aufwendungen sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen berücksichtigen.
UNIV. PROF. DR. MED. INGRID MÜHLHAUSER
Universität Hamburg
MIN Fakultät / Gesundheitswissenschaften
E-Mail: ingrid.muehlhauser@uni-hamburg.de
Tel: 040 42838 3988
Literatur:
1) WHO. Global excess deaths associated with COVID-19, January 2020 - December 2021. May 2022.
https://www.who.int/data/stories/global-excess-deaths-associated-with-covid-19-january-2020-december-2021
2) Van Noorden R. COVID death tolls: scientists acknowledge errors in WHO estimates. Nature 2022, 606:242-244.
https://www.nature.com/articles/d41586-022-01526-0
3) COVID-19 Excess Mortality Collaborators. Estimating excess mortality due to the COVID-19 pandemic: a systematic analysis of COVID-19-related mortality, 2020–21. Lancet 2022, 399:1513–1536.
4) Statistisches Bundesamt (Destatis). Sterbefallzahlen und Übersterblichkeit. Zugriff 19. Juli 2022
https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/Gesellschaft/bevoelkerung-sterbefaelle.html
5) The Economist. Estimated cumulative excess deaths per 100,000 people during COVID. Our World in Data, Stand 19. Juli 2022.
https://ourworldindata.org/grapher/excess-deaths-cumulative-per-100k-economist?country=OWID_WRL~CHN~IND~USA~IND~BRA