Missbrauch verordneter Arzneimittel: Ausmaß und Tendenzen
Von Dr. Rainer Ullmann
Pregabalin und einige Benzodiazepine und Opioide werden missbraucht. Der Verdacht entsteht, wenn ein Patient sich diese Arzneimittel in einem Jahr von mehr als drei Praxen verschreiben lässt (Doc hopper) oder wenn die von einzelnen Praxen an einen Patienten verordnete Menge die Höchstmenge nach der Fachinformation deutlich überschreitet. Diese beiden Patientengruppen (zusammen meist etwa ein Prozent der Patienten) bekommen bis zu 25 Prozent der verordneten Gesamtmenge der oben genannten Arzneimittel. Und es gibt eine steigende Tendenz: Die Verordnung an Doc hopper hat zwischen 2018 und 2023 deutlich zugenommen.
Auf der Straße gehandelte Arzneimittel stammen aus dem Darknet, illegaler Einfuhr („arabisches Pregabalin“) und aus ärztlichen Verschreibungen. Apothekeneinbrüche sind nach Daten des LKA Hamburg selten. Aus mehreren Untersuchungen ist bekannt, dass mindestens die Hälfte der Verordnungen von Benzodiazepinen und Z-Substanzen auf Privatrezept vorgenommen wird – obwohl ein Großteil der Patienten gesetzlich versichert ist (Hoffmann, Glaeske 2014, Grimmsmann 2023) – ein fachlich und berufsrechtlich fragwürdiges Vorgehen. Wenn eine Verordnung medizinisch begründet ist, steht sie GKV-Patienten auf einem Kassenrezept zu. Wenn es keine medizinische Begründung gibt, verstößt die Verordnung einer abhängig machenden Substanz gegen das Berufsrecht – auch auf Privatrezept.
Nach den Fachinformationen für die Benzodiazepine und Z-Substanzen soll die Dauer der Behandlung vier Wochen nicht überschreiten (bei Alprazolam zwölf Wochen). Hypnotika sind nach der AWMF-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“ Mittel zweiter Wahl; erste Wahl ist die kognitive Verhaltenstherapie (die allerdings nicht ausreichend verfügbar ist). Werden Benzodiazepine länger als vier Wochen verordnet, muss dies nach der AM-RL Anlage III medizinisch begründet werden; eine längere Verordnung ist nicht verboten. Bei den Maximaldosen der Opioide wird zwischen den Indikationen Nicht-Tumorschmerz und Tumorschmerz unterschieden. Insgesamt wurden in Hamburg 2023 weniger Benzodiazepine und Opioide zu Lasten der GKV verschrieben als fünf Jahre zuvor. Nur Pregabalin wurde deutlich mehr verordnet als 2018 (Arzneiverordnungsreport 2023).
Doc hopper
Der Anteil der Doc hopper an der Zahl aller Patienten, denen dieses Arzneimittel verordnet wurde, ist gering – meist wenige Promille. Aber 5 bis 30 Prozent der Praxen verordnen 5 bis 15 Prozent der Gesamtmenge an Doc hopper. Die meisten Doc hopper gibt es bei Pregabalin. An 63 Doc Hopper wurde 2023 doppelt so viel Pregabalin verordnet wie 2018, etwa 5 Prozent der Gesamtmenge. Beteiligt waren 244 von 1100 Praxen. Bei den Opioiden fragen Doc hopper besonders nach Oxycodon; sie bekamen 2023 doppelt so viel wie 2018 – jetzt fast 10 Prozent der Gesamtmenge. Bei den übrigen untersuchten Opioiden wurden nur geringe Mengen von wenigen Praxen an Doc hopper verschrieben.
Doc hopper zu identifizieren, ist nicht einfach. Der KV liegen nur anonymisierte Verordnungsdaten vor. Auch die Kassen dürfen in ihren Daten nicht nach diesem Missbrauch der elektronischen Gesundheitskarte suchen. Wenn in der Praxis ein Verdacht entsteht, darf dieser an die Kassen gemeldet werden. Eine Liste der Ansprechpartner in den Krankenkassen finden Sie auf der Homepage der KV.
Der Verdacht kann anonymisiert auch bei der KV gemeldet werden, um andere Praxen zu informieren. Den Meldebogen finden Sie ebenfalls auf der genannten Seite.
Verordnung hoher Dosierungen
Die Höchstmenge von 600 mg Pregabalin täglich wurde 2023 bei 246 Patienten überschritten; das sind fast doppelt so viele wie fünf Jahre zuvor (1 Prozent aller Patienten). Verordnet wurden bis über 3.000 mg täglich.
Es wurden zwar insgesamt weniger Benzodiazepine zu Lasten der GKV verordnet, aber häufiger hohe Dosen an einzelne Patienten als 2018. Clonazepam ist nur als Zusatzbehandlung bei Epilepsie zugelassen; dazu sind meist weniger als 8 mg täglich nötig. Es fällt auf, dass Dosierungen von 8 bis maximal 16 mg täglich ein Jahr lang in neun von zehn Fällen von allgemeinärztlichen Praxen verordnet wurden.
Nach der Fachinformation soll eine Dosis von 10 mg Diazepam täglich in der Regel nur stationär überschritten werden. Die Behandlungsdauer soll bei „chronischen Krankheitsbildern“ vier Wochen nicht überschreiten. Weniger als 30 Tabletten zu 10 mg im Jahr bekommen allerdings nur die Hälfte der ambulant behandelten Patienten. Sechs Prozent der Patienten (ca. 200) bekamen mindestens 10 mg täglich (maximal 100 mg). Lorazepam ist das am häufigsten verordnete Benzodiazepin. Eine Dosis von 2,5 mg täglich soll nicht überschritten werden, im Einzelfall (besonders im Krankenhaus) kann die Dosis bis 7,5 mg gesteigert werden. 15 Prozent der Patienten bekamen 2023 mehr als 2,5 mg täglich (bis 15 mg), verschrieben von zehn Prozent der Praxen.
Hypnotika sollen nach den Fachinformationen, der Arzneimittel-Richtlinie und Leitlinien möglichst nicht länger als vier Wochen verordnet werden. Auch Zolpidem und Zopiclon wurden nur etwa der Hälfte der Patienten für weniger als 30 Tage im Jahr verordnet; ein Viertel der Patienten bekamen mehr als 60 Tagesdosen. An ein bis zwei Prozent der Patienten (zusammen ca. 250 Patienten) wurden diese Schlafmittel täglich (maximal fünf Tabletten) verordnet.
Die große Zahl der Patienten, bei denen viele Ärzte Schlafmittel länger als empfohlen verschreiben, zeigt, dass die Anforderungen der Leitlinie in der Wirklichkeit nicht erreicht werden. Das wird bei den privat verordneten Schlafmitteln nicht anders sein.
Auch Opioide wurden insgesamt weniger verschrieben. Allerdings wurde 2023 doppelt so viel Oxycodon wie 2018 an hochdosierte Patienten verordnet, bis über 1000 mg Oxycodon täglich (Maximaldosis beim Tumorschmerz nach der Fachinformation 400 mg).
Wenn Patienten nach einer Dosiserhöhung fragen, muss geprüft werden, ob die erwünschte Schmerzlinderung damit erreicht werden kann, ob ein neuropathischer Schmerz besser mit anderen Arzneimitteln behandelt werden kann oder ob eine psychiatrische Ursache vorliegt (Leitlinie „Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen / LONTS“). Natürlich kann eine im Rahmen der Schmerzbehandlung entstehende Opioidabhängigkeit bei einem tumorbedingten Schmerz in Kauf genommen werden. Bei einem Nicht-Tumorschmerz soll diese unerwünschte Arzneimittelwirkung vermieden werden. Die Leitlinie empfiehlt deshalb, nur bei deutlicher Schmerzbesserung innerhalb von zwölf Wochen die Therapie fortzusetzen und eine Dosis von 120 mg Morphinäquivalent nur in Ausnahmefällen zu überschreiten.
Bei der Verordnung abhängig machender Arzneimittel müssen Indikation, Menge und Dauer sorgfältig geprüft werden. Das gilt auch für Privatpatienten. In der Berufsordnung heißt es in §7 Abs.8: „Ärztinnen und Ärzte dürfen einer missbräuchlichen Verwendung ihrer Verschreibung keinen Vorschub leisten“. Die Opioide Fentanyl und Oxycodon fallen unter das Betäubungsmittelgesetz. Betäubungsmittelrecht ist Strafrecht. Betäubungsmittel dürfen nur verordnet werden, wenn der beabsichtigte Zweck nicht auf andere Weise erreicht werden kann. Sie sind also immer Arzneimittel zweiter Wahl. Auch im Vertretungsfall muss belegt werden können, dass das Betäubungsmittel indiziert ist.
Bei der Verordnung auffällig hoher Dosierungen muss mit einer Prüfung wegen Unwirtschaftlichkeit gerechnet werden. Es ist deshalb wichtig, die Begründung für die Verordnungen in der Patientendatei sorgfältig zu dokumentieren.
DR. MED. RAINER ULLMANN
ist beratender Arzt in der Abteilung „Verordnung und Beratung“
Tel: 040 / 22802 - 571, -572
verordnung@kvhh.de
Literatur
► Grimmsmann, Himmel (2023): Privatverordnungen von Benzodiazepinen und Z-Substanzen in Ost- und Westdeutschland – eine Sekundärdatenanalyse. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-2160-2679.pdf
► Hoffmann, Glaeske (2014) Benzodiazepinhypnotika, Zolpidem und Zopiclon auf Privatrezept. Verbrauch zwischen 1993 und 2012. doi: 10.1007/s00115-014-4016-8
► Ludwig, Mühlbauer, Seifert: Arzneiverordnungsreport 2023
► S3-Leitlinie „Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen / LONTS“. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/145-003
► S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“ (AWMF-Registernummer 063-003, Update 2016). https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/063-001