12/2022 12/2022

Bewertung individueller Gesundheitsleistungen im IGeL-Monitor

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Von Dr. med. Michaela Eikermann im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (www.ebm-netzwerk.de)

Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sind Leistungen, die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehören und die daher von den Versicherten selbst bezahlt werden müssen, falls diese die Leistung wünschen.

Es handelt sich um Leistungen, die entsprechend der sozialrechtlichen Regelungen grundsätzlich nicht zum Leistungsumfang der GKV gehören oder die in den Beratungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) keinen ausreichend belegten Nutzen zeigen konnten. Die dritte und größte Gruppe umfasst Leistungen, die bisher nicht im G-BA beraten wurden bzw. für die bisher kein positiver Beschluss gefasst wurde.

Das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen wurde 1998 in die Versorgung eingeführt und wird als Folge der Regelungen durch das 1993 in Kraft getretene Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) gesehen, insbesondere der Budgetierung der Ausgaben für ärztliche Behandlung.

Überblick über den IGeL-Markt

Der IGeL-Markt ist veränderlich. Es kommen immer wieder neue IGeL hinzu, wie z. B. aktuell spezifische Angebote im Zusammenhang mit der COVID 19-Pandemie. Andere Leistungen spielen irgendwann eine untergeordnete Rolle oder finden – auch wenn das bisher selten ist – Eingang in die Regelversorgung. Insgesamt werden eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Leistungen als IGeL angeboten. Hierunter sind zum einen Atteste, Sportmedizinische Untersuchungen und Reiseimpfungen oder auch medizinisch-kosmetische Leistungen oder besondere psychotherapeutische Leistungen umfasst. Den größeren Anteil am IGeL-Markt haben aber Maßnahmen zur Früherkennung, Diagnose und Therapie von Erkrankungen [1, 2], darunter auch das breite und heterogene Feld der alternativmedizinischen Verfahren. Die einzelnen Leistungen umfassen ein breites Spektrum unterschiedlicher Maßnahmen von einzelnen Laborwerten bis hin zu aufwändigen apparativen Verfahren oder Paketangeboten.

Die meisten IGeL sind dem Bereich der Früherkennung und Prävention zuzuordnen. Im IGeL-Report 2020, einer vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS, seit 2022: Medizinischer Dienst Bund) beauftragten, repräsentativ quotierten Befragung, machten diese Leistungen 71 % des Angebotes aus [2]. Dabei liegen die Glaukom-Früherkennung, Ultraschalluntersuchungen von Ovarien und Uterus sowie der Brust zur Krebsfrüherkennung sowie der PSA-Test seit Jahren an der Spitze der am häufigsten angebotenen oder nachgefragten IGeL.

Genaue Zahlen zum IGeL-Markt sind sowohl bezüglich der absoluten Anzahl der IGeL als auch des wirtschaftlichen Volumens unbekannt, da angebotene bzw. in Anspruch genommene IGeL nicht systematisch erfasst werden. Die Anzahl der angebotenen IGeL wird mittlerweile auf mehrere Hundert geschätzt. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) schätzt auf Basis seiner Versichertenbefragung 2019 das grobe Umsatzvolumen des IGeL-Marktes auf rund eine Milliarde Euro pro Jahr [1].

Den meisten GKV-Versicherten sind IGeL bekannt, und die Bekanntheit steigt mit zunehmendem Alter. Im IGeL-Report 2020 kannten 83 % der 60 bis 69 Jährigen IGeL, in der jüngsten Altersgruppe (20 - 29 Jahre) waren es immerhin noch 63 % [2].

Die Hälfte aller Befragten gab an, in den vergangenen drei Jahren in einer ärztlichen Praxis mindestens eine IGeL angeboten bekommen oder selbst nachgefragt zu haben [2]. Laut dieser Befragung wurden 80 % der IGeL von Ärzt:innen angeboten und nur ca. 19 % wurden von Versicherten selbst nachgefragt, etwa jede zweite der angebotenen IGeL hatten die Befragten auch in Anspruch genommen [2].

Nutzen Individueller Gesundheitsleistungen

Während sich die Nutzenfrage bei Serviceleistungen wie Attesten naturgemäß nicht stellt und bei Leistungen wie einer reisemedizinischen Beratung unstrittig ist, wird der angenommene Nutzen vieler anderer IGeL, mit dem das Angebot häufig begründet wird, kontrovers diskutiert. Grundsätzlich gilt für IGeL, dass diese ärztlich empfehlenswert oder zumindest ärztlich vertretbar sein sollen, was implizit eine Auseinandersetzung mit der vorhandenen Evidenz und eine Nutzen-Schaden-Abwägung voraussetzt.

Das Internetangebot IGeL-Monitor (http://www.igel-monitor.de) des Medizinischen Dienstes Bund wurde entwickelt, um Versicherte durch evidenzbasierte Informationen bei der Entscheidung für oder gegen eine IGeL zu unterstützen. Dazu werden die IGeL in Bezug auf den möglichen Nutzen und potentiellen Schaden bewertet. Bisher wurden 56 solcher Bewertungen durchgeführt, teilweise wurden diese bereits einmal oder mehrfach aktualisiert. Darüber hinaus werden allgemeine Informationen zu IGeL, dem IGeL-Markt sowie Informationen über die entsprechenden Leistungen der GKV gegeben.

Die Bewertungen stellen das Herzstück des Angebotes des IGeL-Monitors dar. Nachfolgend sollen Auswahl der Themen und Durchführung der Bewertungen daher erläutert werden.

Methodisches Vorgehen des IGeL-Monitors

Für die Bewertung von Nutzen und Schaden jeder medizinischen Leistung bedarf es der wissenschaftlichen Untersuchung in klinischen Studien. Daher stellt die Evidenz aus diesen Studien den Ausgangspunkt der IGeL-Bewertungen dar. Ein solcher Evidenzbericht stellt immer die Basis für die deutlich kürzeren Info-Texte dar und ist für jede Bewertung auf der Homepage abrufbar.

Wie werden die IGeL ausgesucht, die bewertet werden?

Die Idee des IGeL-Monitors ist es, möglichst vielen Menschen ein für sie relevantes Informationsangebot zu machen und sie bei der Entscheidung für oder gegen eine IGeL zu unterstützen. Daher sind die Relevanz der IGeL auf dem IGeL-Markt sowie die Häufigkeit der Nachfragen zu einem Thema die wichtigsten Kriterien zur Themenfindung. Hierzu werden zum einen die Ergebnisse von Versichertenbefragungen wie dem IGeL-Report [2] oder dem WidO-Monitor [1] genutzt, aber auch Nutzeranfragen ausgewertet. Neben besonders häufig nachgefragten Themen erfolgt auch ein Monitoring in Bezug auf neu aufkommende Themen. Darüber hinaus sollen möglichst verschiedene medizinische Bereiche und Fachrichtungen abgedeckt werden.

Wie erfolgt eine Bewertung im IGeL-Monitor?

Die Bewertung jedes Themas erfolgt in fachlicher Unabhängigkeit nach einem festgelegten Prozess, der der üblichen methodischen Vorgehensweise von Evidenzsynthesen (z. B. systematische Übersichtsarbeiten oder Evidenzberichte für Leitlinien) entspricht. Bei der Erstellung der Bewertungen arbeitet der IGeL-Monitor bei vielen Themen mit externen Sachverständigen zusammen. Dies sind Methodiker, die in der Nutzenbewertung medizinischer Verfahren erfahren sind und/oder Ärzt:innen, die in dem jeweiligen Fachgebiet Expertise aufweisen.

Zunächst wird eine Fragestellung formuliert, in der präzisiert wird, welche Population betrachtet wird, was genau die Intervention ist, die bewertet werden soll und was ein sinnvoller Vergleich ist.

Im IGeL-Kontext kann es sein, dass der Vergleich eine bestehende Kassenleistung ist oder aber auch eine Placebo- oder Scheinintervention oder auch in manchen Fällen gar keine Intervention. Weiterhin wird in diesem Arbeitsschritt festgelegt, welche Endpunkte betrachtet werden. Hierbei ist es wichtig, dass es sich um sogenannte patientenrelevante Endpunkte handelt, also um Endpunkte, die abbilden, wie Betroffene sich fühlen, ihre Funktionen und Aktivitäten wahrnehmen können oder wie lange sie leben. Dies sind Auswirkungen auf die Mortalität, die Morbidität (Beschwerden und Komplikationen), die (gesundheitsbezogene) Lebensqualität sowie unerwünschte Wirkungen.

Veränderungen von Laborwerten werden dagegen in der Regel nicht als patientenrelevant angesehen. Ebenso reicht es bei den Früherkennungsfragestellungen in der Regel nicht, nur zu schauen, ob eine diagnostische Maßnahme eine Erkrankung findet, es muss vielmehr geprüft werden, ob dies in der Folge beispielsweise zu einer Verlängerung des Überlebens oder einer Verbesserung der Lebensqualität führt.

Ist die Fragestellung klar festgelegt, erfolgt eine umfassende Recherche in mehreren Datenbanken. Als Quelle für die Bewertungen der IGeL werden, wenn möglich, methodisch hochwertige systematische Übersichtsarbeiten genutzt und ggf. durch weitere Studien ergänzt, die zum Beispiel aufgrund der Aktualität noch nicht in den Übersichtsarbeiten umfasst sind.

Die für das Thema relevanten systematischen Übersichtsarbeiten und Studien werden in Bezug auf ihre methodische Qualität mittels etablierter Instrumente bewertet, um die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse einzuschätzen. Es erfolgt eine Bewertung des Studiendesigns und dessen Umsetzung sowie der durchgeführten statistischen Analysen und der Ergebnisinterpretationen.

Die Ergebnisse der Publikationen werden analysiert und zusammengefasst. Es erfolgt jeweils eine Darstellung der Ergebnisse zu den Endpunkten, die den Nutzen der jeweiligen IGeL abwägen und derjenigen, die den Schaden abbilden. In einer abschließenden Bewertung werden diese beiden Größen nach einem festgelegten Schema gegeneinander abgewogen und zu einem Gesamtfazit zusammengeführt. Dies erfolgt in fünf Abstufungen:

  • Positiv: Belege für Nutzen und keine Hinweise auf Schaden

  • Tendenziell positiv: Hinweise auf Nutzen und keine Hinweise auf Schaden oder Belege für Nutzen und Hinweise auf Schaden

  • Unklar: keine Hinweise auf Nutzen und Schaden oder Hinweise auf Nutzen und Schaden oder Belege für Nutzen und Schaden

  • Tendenziell negativ: Hinweise auf Schaden und keine Hinweise auf Nutzen oder Belege für Schaden und Hinweise auf Nutzen

  • Negativ: Belege für Schaden und keine Hinweise auf Nutzen.

Um eine eigene Abwägung zu ermöglichen, erfolgt eine detaillierte und transparente Darstellung der Hauptargumente, die jeweils auf der Nutzen- und der Schadenseite zum Gesamtfazit geführt haben.
Zu jeder IGeL-Bewertung erfolgt eine Einordnung in den Kontext aktueller nationaler und internationaler Empfehlungen aus evidenzbasierten Leitlinien. Somit wird zum einen deutlich, wie die IGeL von den jeweiligen Fachgesellschaften eingeschätzt wird und wie diese in anderen Gesundheitssystemen bewertet wird.

Wie fallen die Bewertungen aus?

Die bisher betrachteten 56 Leistungen wurden wie folgt bewertet:

  • positiv: 0

  • tendenziell positiv: 2

  • unklar: 22

  • tendenziell negativ: 25

  • negativ: 4

  • Bewertungen ohne Gesamtfazit: 3

Dies ist kein gutes Bild für den IGeL-Markt, insbesondere wenn man bedenkt, dass 14 dieser Themen zu den TOP 20 der letzten Befragung des IGeL-Reports gehören. Viele dieser am häufigsten in der Praxis angebotenen oder nachgefragten IGeL konnten einer wissenschaftlichen Überprüfung des Nutzens nicht standhalten, oft weil es keine aussagekräftigen Studien gibt oder in Studien ein Nutzen nicht gezeigt werden konnte. Dies bildet sich in vielen Fällen auch in Leitlinienempfehlungen zu den entsprechenden IGeL-Fragestellungen ab.

Neben der häufig fehlenden oder unzureichenden Evidenz gibt es weitere Kritikpunkte am IGeL-Markt, die insbesondere den Umgang mit IGeL in der Praxis betreffen. Das soll an dieser Stelle bewusst nicht tiefergehend diskutiert werden, da der Fokus des Beitrages die Evidenzbewertung Individueller Gesundheitsleistungen, speziell die Arbeitsweise des IGeL-Monitors, ist.

Trotzdem spielen diese Dinge eine wesentliche Rolle in den Diskussionen und sind insofern nicht komplett von der Evidenzeinschätzung zu trennen, als dass evidenzbasierte Informationen eine zentrale Forderung sind. Geht man davon aus, dass das Angebot an IGeL nicht ausschließlich wirtschaftlich begründet ist, so scheint doch in vielen Fällen eine falsche Vorstellung von der Evidenz vorzuliegen oder Überzeugungen sind so stark, dass die Evidenz aus klinischen Studien nicht dagegen ankommt.

Insbesondere in Bezug auf Früherkennungsuntersuchungen scheint oftmals eine Überschätzung des Nutzens und Unterschätzung des Schadens dazu zu führen, dass Leistungen in großem Umfang angeboten werden, obwohl die Evidenz dagegenspricht [4].

Sich mit Unsicherheiten auseinanderzusetzen und diese zu kommunizieren, ist der Grundgedanke einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung und unverzichtbar für eine moderne, qualitativ hochwertige, patient:innenorientierte Medizin. Diese lebt nicht von Überzeugungen, sondern muss immer wissenschaftlich begründet sein. Zentral ist eine ehrliche und umfassende Information der Versicherten über das, was wir aus aussagekräftigen klinischen Studien zum möglichen Nutzen und potentiellen Schaden einer IGeL ableiten können. Insbesondere ist es wichtig, auch transparent über ggf. fehlende Evidenz zu informieren.

Nicht immer ist es möglich, eigene umfassende Recherchen und eigene Bewertungen zu allen für den Praxisalltag relevanten IGeL durchzuführen. Hier sind Angebote hilfreich, die eine fachlich unabhängige Bewertung durchgeführt haben und diese transparent und nachvollziehbar darstellen.

Auch wenn das Projekt IGeL-Monitor ursprünglich als Informationsportal für Patient:innen geschaffen wurde, kann es aber natürliche auch von anderen Gruppen, wie beispielsweise Ärzt:innen genutzt werden, um sich einen Eindruck von der aktuellen Evidenz sowie aktuellen Leitlinienempfehlungen zu einem IGeL-Thema zu verschaffen. Auch andere Anbieter evidenzbasierter Gesundheitsinformationen haben Bewertungen zu einzelnen IGeL in ihrem Angebot und können in gleicher Weise genutzt werden. Darüber hinaus lohnt vielfach der Blick in die aktuellen evidenzbasierten Leitlinien.

DR. MED. MICHAELA EIKERMANN
Bereichsleiterin Evidenzbasierte Medizin, Medizinischer Dienst Bund, Essen
Kontakt: redaktion@kvhh.de

Darlegung möglicher Interessenkonflikte: Die Autorin ist Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes Bund. Der IGeL-Monitor wird vom Medizinischen Dienst Bund betrieben.

Literatur:

1) Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO). WIdO-monitor 2019: Private Zusatzleistungen in der Arztpraxis; 16(1):1–12

2) Drews M, Schultheiß M. IGeL-Report 2020. Ergebnisse der Versichertenbefragung. Hrsg.: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Essen 2020.

3) Medizinischer Dienst Bund. IGeL-Monitor. Nachzulesen unter: https://www.igel-monitor.de/ Letzter Zugriff am 03.11.2022.

4) Wegwarth O, Pashayan N. When evidence says no: gynaecologists' reasons for (not) recommending ineffective ovarian cancer screening. BMJ Qual Saf. 2020 Jun;29(6):521-524.