„Lipidozentrisches Weltbild“: Sind Statine die Rettung?
von Dr. Thomas Maibaum
Der Bundesgesundheitsminister will Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch gießkannenmäßige Verteilung von medizinischer Prävention bekämpfen. Sinnvoller wäre es, sich auf die Versorgung von Menschen mit hohem Risiko zu konzentrieren.
Spätestens seit der Studie von Jasilionis et al., die eine deutlich reduzierte, insbesondere aufgrund kardiovaskulärer Ereignisse postulierte Lebenserwartung in Deutschland festgestellt haben will, überschlagen sich die Vorschläge, wie diesem Problem zu begegnen ist und ob eine medizinisch-medikamentöse Lösung der beste Weg sein könnte.
Insbesondere Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach, seines Zeichens Epidemiologe und ursprünglich Gründungsmitglied des Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin, ist hier publizistisch wie gesetzgeberisch besonders aktiv.
Selbst wenn man über die vielen Fragen, die sich bei der Jasilionis-Studie zeigen, hinwegsieht, bleibt unklar: Ist der Weg, alles über noch mehr ärztliche Präventionsmaßnahmen und Medikamente zu lösen, für die Bevölkerung als Ganzes, aber auch für das Individuum optimal? Aus Sicht vieler Fachgesellschaften und Organisationen wird hier nämlich selbst im optimalen Fall das Pferd von hinten aufgezäumt.
Statt Medizin für die zu machen, die es am nötigsten haben, werden denen, die eh schon zu Checks gehen und sich eher gesundheitsbewusst verhalten, weitere Checks und Medikamente angeboten. Fachwort: Inverse Care Law.
Statt uns (den gefühlt immer weniger werdenden) Ärzten mehr Zeit für die Versorgung von akuten (und chronischen) Erkrankungen zu geben, sollen wir nun noch mehr Zeit für präventive Maßnahmen aufwenden? Laut mehreren Studien machen letztere jetzt schon zwischen 50 und 80 Prozent unserer Arbeitszeit aus.
Statt Verhaltensprävention (z.B. Tabakwerbeverbot, Zuckersteuer) oder Verhältnisprävention (z.B. Infrastrukturmaßnahmen, wie Fahrradwege- oder Sportplätzebau) zu unterstützen, sollen jetzt Statine (im neuesten Gesetzentwurf sogar ganz pauschal „Lipidsenker“) die Rettung bringen.
Kritiker nennen dies ein „lipidozentrisches Weltbild“.
Statt partizipative Entscheidungsfindung zu unterstützen, die neben den rein biologischen Parametern ja grundsätzlich auch Elemente wie das Recht auf Nicht-Wissen oder sozialpolitische Elemente wie Risikozuschläge bei Lebensversicherungen oder „Nicht-Verbeamtung“ mit berücksichtigen, wird ein paternalistischer Weg empfohlen.
Das ist ja so was von „letztes Jahrhundert“! Statt wirklich Evidenz zu suchen und zu erforschen (wie der Ende August 2024 erschienene IQWiG-Report zum Cholesterinscreening bei Kindern und Jugendlichen, die Nationalen Versorgungsleitlinien, aktuelle Cochrane-Reviews oder die britische NICE Guideline zur Behandlung von Hyperlipoproteinamien), werden selektiv Studien herangezogen, die gerade genehm sind, und nicht systematisch recherchierte „Konsensus Statements“ zitiert und einseitig Score-Empfehlungen ausgegeben.
Natürlich sind sehr hohe Cholesterinwerte ein kardiovaskulares Risiko. Und natürlich gibt es sehr robuste Hinweise, dass insbesondere Statine sowohl in der Primär-, als auch in der Sekundär- und Tertiärpravention ein wichtiger Bestandteil der Therapie sein können.
Auch werden Statine allermeistens gut vertragen, sind extrem gut erforscht und mittlerweile – da generisch verfügbar – auch recht preiswert. Vergessen wird dabei aber oft, dass eine relative Risikoreduktion (20 bis 30 Prozent) eben bei einem recht niedrigen Ausgangsrisiko nur eine recht geringe absolute Risikoreduktion bedeutet und die „number needed to treat“ dementsprechend steigt.
Einen bevölkerungsbezogenen wie auch für das Individuum viel größeren absoluten Nutzen haben wir aber sicherlich, wenn wir uns erst einmal darauf konzentrieren, dass die Menschen, die ein besonders hohes Risiko haben, auch wirklich optimal versorgt werden.
So gibt es Erhebungen aus Baden-Württemberg, die darlegen, dass ein Jahr nach Myokardinfarkt gerade mal dreiviertel der betroffenen Patienten noch ihr ASS und nur gut die Hälfte noch ihr Statin nehmen. Ganz zu schweigen von der niedrigen Beteiligung am Herzsport und der immer noch viel zu hohen Raucherquote ….
Sowohl was die Daten als auch die Verträglichkeit angeht und erst recht den Preis, ist es darüber hinaus sehr bedenklich, wenn nun eben auch in der Primärprävention nicht nur Statine, sondern auch andere Substanzgruppen wie Bempedoinsaure, Ezetimib und PCSK9-Hemmer diskutiert werden (hier rede ich nicht von Hochrisikogruppen wie Personen mit einer – genetisch bewiesenen – familiären Hypercholesterinämie).
Und ganz nebenbei verabschieden wir uns so von dem „WANZ Prinzip“: „wirtschaftlich“, „ausreichend“, „notwendig“ und „zweckmäßig“. Dies sollte eigentlich immer wieder durch die Gremien der Selbstverwaltung und nicht durch einen Gesundheitsminister allein ausgelotet werden!
Inwieweit nun eine gießkannenmäßige Verteilung von noch mehr (evidenzarmen) Gesundheitsuntersuchungen, Blutwertekontrollen, Disease-Management-Programmen und Cholesterinsenkern (nach Berechnung des Bundesgesundheitsministeriums ergebe dies zwei Millionen Patienten mehr, nach anderen Berechnungen bis zu 20 Millionen zusätzliche Patienten) unsere Bevölkerung tatsachlich glücklicher und gesünder macht, ist zumindest sehr fraglich.
Viel besser wäre es aus meiner Sicht, die eh schon im internationalen Vergleich sehr hohen Ausgaben im Gesundheitssektor auf eine breitere und evidenzbasiertere Basis zu stellen: Dazu konnten bezahlte Tabakentwöhnungsprogramme gehören (die stehen im aktuellen Gesetzentwurf sogar drin); breite Aufklärungskampagnen für gesundheitsbewusstes Verhalten (z.B. die Patienteninformationen des Ärztlichen Zentrums fur Qualität – ÄZQ -, das abgeschafft und gerade dieser Teil des AZQ geopfert wurde); mehr Gelder für Strukturmaßnahmen und den Breitensport, Sozialarbeit und die Stärkung der Gesundheitskompetenzen insbesondere in sozial schwachen Regionen; und letztendlich: Die Betrachtung des Menschen in seiner Gänze, und das ist eben nicht nur biologisch, sondern biopsychosozial!
DR. THOMAS MAIBAUM
ist Hausarzt in Rostock und Präsidiumsmitglied – Sektion Prävention – der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM).
Zuerst veröffentlicht im Journal der KV Mecklenburg-Vorpommern 10/2024 – Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der KV Mecklenburg-Vorpommern.