10/2022 10/2022

Bewegungsprogramme für gebrechliche ältere Menschen

Aus dem Netzwerk evidenzbasierte Medizin

Wenn ein Interpretationsbias den Blick auf unerwünschte Nebeneffekte verstellt

Von Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer und Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser im Auftrag des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (www.ebm-netzwerk.de)

Unabhängige Bewegungsfähigkeit im Alter ist eine wichtige Voraussetzung für die Wahrung von Selbstständigkeit und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Präventionsprogramme propagieren körperliche Aktivität auch für hochaltrige Menschen.

Die kürzlich im britischen Ärzteblatt veröffentlichte randomisierte kontrollierte SPRINTT Studie zeigt, dass ein strukturiertes Bewegungsprogramm den körperlichen Abbau bei gebrechlichen, in der Gemeinde lebenden Senior:innen, tatsächlich verzögern kann (1). Der Autor des begleitenden Editorials sieht nunmehr sogar „überwältigende Evidenz“ für die generelle Implementierung derartiger Programme (2).

Zu einer positiven Schlussfolgerung kommt auch ein Cochrane Review (3), das 12 randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) einschließt (1317 Teilnehmer:innen; mittleres Alter 82 Jahre). Demnach kann ein Mobilitätstraining für gebrechliche Senior:innen deren Mobilität verbessern, zumindest über einen Zeitraum von sechs Monaten. Dennoch fordern die Cochrane-Autor:innen weitere methodisch hochwertige RCTs, um die Auswirkungen auf unerwünschte Effekte des Trainings, z. B. die Häufigkeit von Stürzen und patientenrelevante Endpunkte, wie die Aufnahme ins Pflegeheim, zu evaluieren. So berichten nur zwei der 12 Studien Ergebnisse zum Sturzrisiko.

In der SPRINTT Studie hingegen werden Sicherheitsparameter als prädefinierte Outcomes sorgfältig untersucht und veröffentlicht (1). Eine Übersicht der wichtigsten Merkmale der Studie zeigt Tabelle 1.

Wirksamkeit der SPRINTT Bewegungsintervention

Für den primären Ergebnisparameter (Unfähigkeit den 400-m-Gehtest zu absolvieren) betrug der Gruppenunterschied 22 Relativprozent (Hazard Ratio 0,78 (95 % Konfidenzintervall (KI) 0,67 bis 0,92). Bis zu sechs Monate nach Beginn der Studie zeigt sich kein Effekt, aber bereits zu diesem Zeitpunkt können in beiden Gruppen ungefähr 20 % der Teilnehmer:innen den Test nicht mehr absolvieren. Nach 36 Monaten können 47 % in der Interventionsgruppe und 53 % in der Kontrollgruppe den 400-m-Gehtest nicht mehr durchführen.

Kritische Betrachtung der klinischen Relevanz

Der Gruppenunterschied von nur 6 Prozentpunkten nach drei Jahren zugunsten der doch sehr aufwendigen Multikomponenten-Intervention provoziert Zweifel an der klinischen Relevanz des Effekts. Obwohl der 400-m-Gehtest ein etabliertes geriatrisches Instrument zur Bestimmung des Mobilitätsstatus ist, drängt sich zudem die Frage auf, ob es sich um einen patientenrelevanten Ergebnisparameter handelt. Mit anderen Worten: Ist es ein erstrebenswertes Ziel, bei bestehender Gebrechlichkeit 400 m ohne Pause und Unterstützung in weniger als 15 Minuten gehen zu können oder stehen eher andere Ziele der Funktionsfähigkeit und Teilhabe für diese Population im Vordergrund?

Unerwünschte Effekte der Intervention

Die SPRINTT Studie ist ein positives Beispiel für die sorgsame Erfassung und Berichterstattung unerwünschter Ereignisse. Laut Studienprotokoll sollte das Mobilitätstraining auch das Sturzrisiko reduzieren (4). Allerdings zeigen nahezu alle unerwünschten Ereignisse entweder einen Trend oder sind gar statistisch signifikant zuungunsten des Bewegungsprogramms (siehe Tabelle 2).

Die Nutzen-Schaden-Bilanz wird jedoch nicht in der Schlussfolgerung der Publikation reflektiert (1). Die Autor:innen betonen den Effekt auf den primären Ergebnisparameter und empfehlen die Intervention für gebrechliche Senior:innen ohne Berücksichtigung der Risiken und Komplikationen. Auch das begleitende Editorial erwähnt mit keinem Wort die erheblichen Unterschiede in den unerwünschten Effekten (2). Es handelt sich immerhin um einen Unterschied von 5 Prozentpunkten bei den Senior:innen mit mindestens einem Sturzereignis.

Diskussion

Selbst hochwertige Studien in renommierten Zeitschriften können durch Bias in der Berichterstattung und Interpretation der Ergebnisse zu irreführender Rezeption führen. Wieder einmal bestätigt sich, dass es nicht ausreicht, die Zusammenfassung und die Schlussfolgerung einer Studie zu lesen (5). Die kritische Prüfung aller Ergebnisse, vor allem der unerwünschten Effekte, ist unerlässlich.

Cochrane hat in seinem Methodenhandbuch einen deutlichen Akzent gesetzt, indem die Reviewer nunmehr angewiesen werden, unerwünschte Effekte als primäre Endpunkte des Reviews zu definieren (6). Dies gilt auch für vermeintlich harmlose präventive Interventionen wie Bewegungsprogramme.

PROF. DR. PHIL. GABRIELE MEYER
Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Medizinische Fakultät an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Gabriele.Meyer@uk-halle.de

Referenzen

1) Bernabei R, Landi F, Calvani R, et al. Multicomponent intervention to prevent mobility disability in frail older adults: randomised controlled trial (SPRINTT project). BMJ 2022; 377: e068788

2) Gill TM. Preserving community mobility in vulnerable older people. BMJ 2022; 377: o1084

3) Treacy D, Hassett L, Schurr K, et al. Mobility training for increasing mobility and functioning in older people with frailty. Cochrane Database of Systematic Reviews 2022, Issue 6. Art. No.: CD010494

4) Landi F, Cesari M, Calvani R, et al. The “Sarcopenia and Physical frailty in older people: multicomponent treatment strategies” (SPRINTT) randomized controlled trial: design and methods. Aging Clin Exp Res 2017; 29: 89-100

5) Montori VM, Jaeschke R, Schünemann HJ, et al. Users’ guide to detecting misleading claims in clinical research reports. BMJ 2004; 329: 1093-1096

6) Cochrane Handbuch der Methoden. https://training.cochrane.org/handbook/current/chapter-02; Zugriff am 21. August 2022